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Die Europäische Union im Spiegel der Verfassungen ihrer Mitgliedstaaten

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich danke herzlich für die ehrenvolle Einladung, hier vor Ihnen sprechen zu dürfen, und es ist mir eine angenehme Pflicht, Ihnen die herzlichen Grüße und besten Wünsche des Dekans meiner Fakultät zu übermitteln, dem die Kooperation zwischen unseren Universitäten ein großes Anliegen ist.

I.

Mein Thema ist das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht. Für gewöhnlich wird es aus der Sicht des Europarechts abgehandelt. Ich bin jedoch von Berufs wegen Verfassungsrechtler. Wenn ich mich für das Europarecht interessiere, dann deshalb und insoweit, als es mit dem nationalen Verfassungsrecht Berührungspunkte gibt. Das bringt es mit sich, dass ich die juristische Welt nicht durch die europarechtliche Brille betrachte, sondern aus einer österreichischen Perspektive. Österreich ist nun allerdings viel zu klein und zu wenig bedeutend, um mit diesem speziellen Blickwinkel hier in Moskau auf Interesse hoffen zu können. Ich möchte daher mit Ihnen eine vergleichende Betrachtung anstellen, die aber doch eine nationale Sichtweise zugrunde legt, indem sie von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihren Verfassungen ausgeht. Wie stellen sich die nationalen Verfassungen zur Union und zu ihrem Recht? Welchen Raum lassen sie der Union, und welcher Technik bedienen sie sich dabei? Nehmen sie auf das Unionsrecht besonders Bezug, und wenn sie dies tun, in welchen konkreten Sachzusammenhängen? Schließlich: Setzen die nationalen Verfassungen der Union und ihrem Recht auch Grenzen? Wenn ja, wie sind solche Grenzen beschaffen?

Was für Europa gilt, gilt auch für die europäische Union: Wenn man sie überhaupt verstehen kann, dann kann man sie nur durch ihre Geschichte verstehen. Mein Referat wird daher mit einem historischen Überblick beginnen. In ihm möchte ich darstellen, wie sich das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften entwickelt hat. Dabei wird sich zeigen, dass sowohl vom nationalen Verfassungsrecht als auch vom Europarecht der Anspruch erhoben wird, über das Verhältnis dieser beiden Rechtsordnungen in letztverbindlicher und endgültiger Weise befinden zu dürfen. Der zweite Teil ist sodann den nationalen Verfassungen gewidmet. In diesem Teil werde ich eine Übersicht über jene Regelungen geben, mit denen die nationalen Verfassungen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ermöglichen und mit denen sie auf spezifische Fragen dieser Mitgliedschaft eine Antwort geben. Der dritte Teil kommt auf die offene Vorrangfrage zurück, die den Herd potentieller Konflikte bildet. In ihm geht es aber nicht darum, die Problematik zu lösen – denn das halte ich für unmöglich. Es geht vielmehr um eine genauere Betrachtung jener Felder, auf denen in der Vergangenheit tatsächlich Konflikte ausgetragen worden sind. Dabei wird sich zeigen, dass Europa auf allen Ebenen gelernt hat, Konflikte als etwas Normales, als etwas Unvermeidbares zu betrachten und mit ihnen auf eine Art und Weise umzugehen, die das weitere Bestehen und Funktionieren der Zusammenarbeit nicht gefährdet.

II.

Doch nunmehr zurück ad fontes, zurück zur Gründungsphase der europäischen Gemeinschaften. Von jenen sechs Staaten, die sich in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts nach dem Schock des Zweiten Weltkrieges zu einer engeren Zusammenarbeit entschlossen, die zuallererst Frieden, in zweiter Linie aber auch Wohlstand und wirtschaftlichen Fortschritt sichern sollte, hatten sich die drei größeren nach dem Krieg neue Verfassungen gegeben. Frankreich hatte diesen Schritt schon 1945 gesetzt, Italien hatte sich 1947 zur Republik entschieden, und in Deutschland entschieden sich die westlichen Teile 1949 im Grundgesetz für eine als Provisorium konzipierte Übergangsverfassung. Die Beneluxstaaten hielten hingegen an ihren aus dem 19. Jahrhundert stammenden Verfassungen fest. Den alten wie den neuen Verfassungen war gemeinsam, dass sie dem Völkerrecht und der internationalen Zusammenarbeit gegenüber offen waren: Die Übertragung einzelner Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen war nach ihnen in bald größerem, bald kleinerem Umfang möglich. Dazu genügte ein Gesetz oder ein Staatsvertrag, die vom Parlament mit einfachen Mehrheiten erlassen oder genehmigt werden konnten. Auf diese Ermächtigungen griff man zurück, als man die Gemeinschaften einrichtete: zunächst 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sodann mit den Römer Verträgen 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft. Alle diese drei Verträge waren damals keinen nennenswerten verfassungsrechtlichen Anwürfen ausgesetzt. Daher wurde zum einen keine Verfassung der Gründungsstaaten geändert, um Hindernisse für die Schaffung der Gemeinschaften aus dem Weg zu räumen; daher nimmt aber zum anderen auch keine Verfassung der Gründungsstaaten auf die Gemeinschaften explizit Bezug. Der Vorgang erschien bei den großen wie bei den kleinen Mitgliedstaaten, auf Seiten der Sieger wie auf Seiten der Verlierer des vor kurzem beendeten Kriegs für gleichermaßen selbstverständlich. Im Falle der Bundesrepublik Deutschland mag vielleicht auch mitgespielt haben, dass die Handlungsfähigkeit der westdeutschen Institutionen durch das Besatzungsrecht ohnehin stark eingeschränkt war.

In den Sechzigerjahren wandelte sich das Bild. Wenn in dieser Phase die Tragfähigkeit der in den nationalen Verfassungen enthaltenen Ermächtigungen in den Gründungsstaaten zunehmend mit einem Fragezeichen versehen wurde, dann aber nicht deshalb, weil die jungen Gemeinschaften von ihren Kompetenzen exzessiven Gebrauch gemacht hätten. Die Ursache lag vielmehr in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die das junge Europarecht von seiner völkerrechtlichen Grundlage schrittweise abzukoppeln versuchte. In der Entscheidung von Gend & Loos hielt der in Luxemburg ansässige Gerichtshof fest, dass das Gemeinschaftsrecht eine eigenständige Rechtsordnung bilde, die den Regeln der Gründungsverträge folge; im Urteil Costa/ENEL 1964 setzte er fort, dass dieses genuin europäische Recht den Vorrang vor allen Regelungen nationalen Ursprungs in Anspruch nehmen könne, der vor keiner wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschrift Halt mache. Der damit inthronisierte Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts stellt, wie rückblickend auch die Europarechtler überwiegend eingestehen, eine Erfindung des Gerichtshofes dar. Weil es in den Gründungsverträgen für diesen Vorrang keine tragfähige Basis gab, musste ihn der Gerichtshof mit gewagten Argumenten betreffend den Sinn und den Zweck der Verträge rechtfertigen.

Der Widerstand gegen diese Konstruktion ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem die Gemeinschaften in dieser Phase aufgrund der französischen Politik des leeren Stuhles allerdings weitgehend gelähmt waren, kam er nicht von Seiten der Regierungen der Mitgliedstaaten; er ging von den nationalen Verfassungsgerichten aus. Den Anfang machte die italienische Corte Costituzionale im Urteil Fortini aus dem Jahr 1973. Dieses Urteil bestätigte erstens, dass die Republik Italien auf Basis von Art 11 der Verfassung Souveränitätsbeschränkungen hinnehmen und internationalen Organisationen beitreten könne, welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen zu sichern bestimmt sind. Es machte sich zweitens die europarechtsfreundliche Sichtweise zu eigen, dass Verordnungen der Gemeinschaft genuin europäische Rechtsakte darstellten mit der Folge, dass trotz ihrer gesetzesgleichen Wirkung die Bestimmungen der italienischen Verfassung über Gesetze auf sie keine Anwendung fänden. Drittens brachte das Urteil dazu aber einen versteckten, aber doch wichtigen Vorbehalt an. Das Gericht rief in Erinnerung, dass die normative Kompetenz der Organe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf Bereiche begrenzt sei, die die wirtschaftlichen Beziehungen beträfen. Sodann heißt es wörtlich: „Die genauen und sorgfältigen Vorschriften des Vertrages geben jedoch eine sichere Garantie, so daß es schwierig erscheint, auch im Abstrakten die Hypothese aufzustellen, daß eine gemeinschaftliche Verordnung in die zivilen, ethisch-sozialen und politischen Beziehungen mit Vorschriften eingreifen kann, die der italienischen Verfassung zuwiderlaufen.“ Sollte aber jemand dem Art. 189 des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine so abwegige Auslegung geben, dass sie Verletzungen der Grundprinzipien der italienischen verfassungsmäßigen Ordnung oder der unveräußerlichen Menschenrechte mit sich bringen könnten, so wäre in einem solch hypothetischen Fall dagegen noch immer die Rechtskontrolle durch die Corte Costituzionale gesichert.

Mit dieser Entscheidung wurden dem Anwendungsvorrang von Verordnungen weit gesteckte, aber doch deutliche Grenzen gesetzt.

Das nächste Urteil des nächsten nationalen Verfassungsgerichts ließ nicht lange auf sich warten, und es fiel deutlicher aus. Ein halbes Jahr später behielt sich das Bundesverfassungsgericht eine viel weiter gehende Kontrolle des Sekundärrechts der Gemeinschaft vor. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit einer Verordnung zu befassen, der der Europäische Gerichtshof kurz zuvor Gültigkeit attestiert hatte, gegen das es aber grundrechtliche Bedenken gab. Obwohl eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts und damit kein deutsches Gesetz den Gegenstand der Vorlage bildete, ging das Bundesverfassungsgericht von der Zulässigkeit aus. Da es innerhalb der Gemeinschaft an einem Grundrechtsschutz fehle, müsse sich die Gemeinschaft eine Kontrolle ihrer Rechtsvorschriften am Maßstab der nationalen Grundrechte gefallen lassen. Wörtlich heißt es: „Solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Grundrechtskatalog enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist [...] die Vorlage eines Gerichtes der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die [...] Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom EuGH gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“

Der EuGH nahm diese Vorbehalte ernst. Statt seine Rechtsprechung zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu überprüfen, ging er jedoch in die Offensive und interpretierte die Gründungsverträge auf eine Weise, für die sich in den Texten ebenfalls keine Basis fand. Das Gemeinschaftsrecht enthalte ungeschriebene Grundrechte, an die alle Gewalten der Gemeinschaft gebunden seien und durch die sie begrenzt würden. Die Frage der Geltung und der Reichweite dieser ungeschriebenen Grundrechte sei im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung klären.

Ungefähr zur gleichen Zeit erhielt die Vorrangproblematik aber auch eine politische Dimension. Denn in den Siebzigerjahren kam es zu den ersten Erweiterungen der Gemeinschaften. Neue Mitglieder befanden sich allerdings im Vergleich zu den Gründungsmitgliedern in einer anderer Situation: Sie wussten um die Unterschiede zwischen den Europäischen Gemeinschaften und herkömmlichen internationalen Organisationen, weil ihnen die Rechtsprechung des Europäschen Gerichtshofes ja vertraut war.

Das hatte einerseits politische Folgen. Nicht wenige der Beitrittskandidaten setzten Volksabstimmungen an, um für den Beitritt wegen der damit verbundenen Souveränitätseinbußen die nötige Legitimation zu erhalten. So wurde beispielsweise die Westerweiterung vom irischen Volk gebilligt, vom norwegischen Volk hingegen abgelehnt. Die Süderweiterung der Achtzigerjahre, bei der Griechenland, Spanien und Portugal beitraten, ging ohne Befassung der Völker ab. Im Rahmen der Norderweiterung der Neunzigerjahre hielten hingegen alle Kandidaten Referenden ab, und auch die jüngste Erweiterung der Gemeinschaft nach Osten war von einigen Volksabstimmungen begleitet.

Die Vorrangdoktrin hatte andererseits für viele Beitrittsstaaten aber auch verfassungsrechtliche Implikationen. Das wurde erstmals beim Beitritt des Vereinigten Königreichs sichtbar. Weil die unmittelbare Anwendbarkeit europäischen Rechts mit dem Grundsatz der Souveränität des Parlaments kollidierte, musste ihr durch den European Communities Act von 1972 der Weg geebnet werden. Materiell stellt dieser Act ein Verfassungsgesetz dar, weil ohne diesen Act britische Richter nach traditioneller Doktrin Gemeinschaftsrecht gar nicht anwenden dürften. Über einen Vorrang europäischen Rechts verliert der Act hingegen aus einsichtigen Gründen kein Wort. Mit dem Grundsatz der Parlamentssouveränität ist er nämlich nicht in Einklang zu bringen.

Andere Beitrittsstaaten hatten vergleichbare Probleme. Österreich war beispielsweise aus verfassungsrechtlichen Gründen gezwungen, nicht nur eine verfassungsrechtliche Grundlage für den Beitritt zu schaffen, sondern darüber auch eine Volksabstimmung abzuhalten, weil der Beitritt nach einhelliger Auffassung eine Gesamtänderung der Verfassung darstellte, die mit der österreichischen Konzeption von Demokratie, Bundesstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit brach. Diese beiden Beispiele zeigen, dass die Beitrittsländer mit einfachen Parlamentsgesetzen nicht mehr das Auslangen fanden.

Mit der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht 1993 änderte sich die Lage aber auch für die alten Mitgliedstaaten in einem wesentlichen Punkt. Denn dieser Vertrag wurde in vielen Mitgliedstaaten als Quantensprung, als wesentliche Veränderung angesehen, der nicht mehr auf Grundlage der allgemeinen verfassungsrechtlichen Ermächtigungen über die Übertragung von Hoheitsrechten abgewickelt werden konnte. Maßgebend für diese Einschätzung waren vor allem die Begründung einer Währungsunion und die Einführung eines Rechts der Unionsbürger, am Ort ihres Aufenthalts an den Kommunalwahlen und an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Das spanische Tribunal Constitucional sah im Kommunalwahlrecht einen Verstoß gegen die Verfassung, welche die politische Teilhabe auf die spanischen Staatsbürger beschränkt; der französische Conseil Constitutionnel pflichtete dieser Einschätzung bei und qualifiziert auch die Währungsunion und die Vorschriften über den Personenverkehr im Binnenmarkt als Verletzungen der französischen Verfassung. Als weiteres Gericht ist das Bundesverfassungsgericht zu nennen, das eine minutiöse Prüfung vornahm und den Vertrag mit einschränkenden Interpretationen versah. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil anders als in Spanien und Frankreich die Befassung des Verfassungsgerichts erst nach einer Verfassungsänderung erfolgt war. Das deutsche Parlament hatte zuvor in das Grundgesetz einen neuen Art 23 eingefügt, der auf den Maastrichter Vertrag zugeschnitten war. Bis zu diesen Zeitpunkt war es einhellige Auffassung gewesen, dass die Teilnahme in den Gemeinschaften auf Grundlage einfacher Gesetze möglich war. Nunmehr wurden plötzlich Zweifel laut, ob sie auf Basis eines Verfassungsgesetzes zulässig erschien.

Soweit die groben Entwicklungslinien. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass man spätestens Mitte der Neunzigerjahre in allen Mitgliedstaaten auf die Frage der Mitgliedschaft in der Union eine Antwort von der eigenen Verfassung erwartete. Damit wende ich mich dem zweiten Teil meines Vortrages zu und stelle jene Regelungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten vor, die sich mit der Union und dem europäischen Recht beschäftigen.

III.

Der erste Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nehmen die Verfassungen auf sie Bezug, und tun sie das nur der Sache oder auch dem Namen nach? Wenn wir die nationalen Verfassungen sichten, dann sehen wir, dass in ihnen die Mitgliedschaft zur Union mitunter gar nicht und im übrigen in verschiedener Weise zum Ausdruck kommt.

Eine erste Gruppe von Verfassungen verliert über die Europäische Union und über die Mitgliedschaft des verfassten Staates in ihr kein Wort. Wir finden in diesen Verfassungen zwar Ermächtigungen, internationalen Organisationen beizutreten oder Hoheitsrechte an zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Diese Ermächtigungen haben aber eine neutrale Fassung, in denen keine konkrete Organisation beim Namen genannt ist. Häufig finden wir auch ein Nebeneinander von weitreichenden Ermächtigungen, die qualifizierte Mehrheiten fordern, und Klauseln für einzelne Befugnisse, die sich mit einfachen Mehrheiten begnügen. Luxemburg und die Niederlande sind Gründungsmitglieder, die sich für diese Positionierung gegenüber der Union entschieden haben. Von den jüngeren Mitgliedstaaten fallen Spanien, Polen und Tschechien in diese Gruppe.

Einer zweiten Gruppe können jene Verfassungen zugeordnet werden, die auf das Recht oder die Institutionen der Gemeinschaft mehr oder weniger beiläufig Bezug nehmen, ohne darüber hinaus Aussagen zur Mitgliedschaft zu treffen. Ein Beispiel ist die italienische Verfassung, die an ganz entlegener Stelle [in Art 117] klarstellt, dass die gesetzgebende Gewalt nicht nur an die Verfassung gebunden ist, sondern auch an das Gemeinschaftsrecht und die internationalen Verpflichtungen. Ein anderes Beispiel ist die griechische Verfassung, zu der eine Interpretationserklärung aus dem Jahr 2001 existiert, nach der der Art 28 der Verfassung „die Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“ bildet. Weitere Beispiele sind Verfassungsklauseln, die auf die Bestellung jener Organe der Union Bezug nehmen, für die den Mitgliedsstaaten ein Mitwirkungsrecht eingeräumt ist.

Eine dritte Gruppe von Verfassungen ermächtigt ausdrücklich dazu, der Europäischen Union beizutreten oder zu ihrer Weiterentwicklung beizutragen. Solche Ermächtigungen, die die Union beim Namen nehmen, existieren beispielsweise in Irland [Art 29/3], in Österreich [Beitritts-BVG], in Portugal [Art 7/6], in Ungarn [Art 2A] und in Schweden [Kap 10 § 5]. Regelmäßig wird in ihnen für den Beitritt zur Union oder für die Änderung ihr vertraglichen Grundlagen eine qualifizierte Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften verlangt.

Eine vierte Gruppe von Verfassungen geht noch einen Schritt weiter, indem sie ein explizites Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der Union abgibt. Mit Deutschland auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite ist diese Gruppe aber sehr klein.

Ein anderes, wenn auch eng damit verwandtes Thema sind die Regelungen, die bei Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Union zu beachten sind. Jene Verfassungen, die die Mitgliedschaft in der Union nicht zum Ausdruck bringen, kommen mit Regelungen aus, die die Übertragung von Hoheitsrechten oder den Beitritt zu internationalen Organisationen erlauben. Neben den schon erwähnten Staaten fällt auch Griechenland in diese Gruppe; und wie die griechische Interpretativerklärung zeigt, wird das Verfahren oft von Streit darüber begleitet, welche Ermächtigung der Verfassung denn im konkreten Fall passend ist und welche Tragweite sie hat. In manchen Staaten wie etwa in Polen ist überdies eine Volksabstimmung möglich. Weil die Ermächtigungen ihre Grenzen haben, ist mitunter auch fraglich, ob es überhaupt eine passende Ermächtigung gibt oder ob es nicht doch einer Änderung der Verfassung bedarf. Nur in den Niederlanden funktioniert dieses Modell klaglos, weil die sehr völkerrechtsfreundliche niederländische Verfassung selbst im Falle eines Widerspruchs zur Verfassung den Beitritt zu völkerrechtlichen Verträgen erlaubt, sofern in den Generalstaaten [im Parlament] eine Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten ihre Zustimmung erteilt.

Die meisten Mitgliedstaaten haben hingegen aus Anlass der Mitgliedschaft in Gemeinschaft und Union ihre Verfassung geändert, weil mit den allgemeinen Ermächtigungen zur Übertragung von Hoheitsrechten nicht das Auslangen zu finden war. Eine Gruppe ermächtigt jeweils ad hoc aus Anlass einer konkret anstehenden Änderung der Gründungsverträge. Klassischer Vertreter dieser Gruppe ist Frankreich, wo anlässlich jeder Primärrechtsänderung der Conseil Constitutionnel mit der Frage befasst wird, ob es einen Widerspruch zur Verfassung gibt. Falls der Conseil einen Verstoß feststellt, wird die Verfassung um eine Bestimmung ergänzt, die den Widerspruch ausräumt. Das geschieht regelmäßig in Titel XV, in dem die spezifischen Regelungen über die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union versammelt sind. Weitere Vertreter sind Irland, dessen Verfassung [in Art 29 Abs 4] eine Chronologie aller angenommenen Primärrechtsänderungen seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 enthält, und Österreich bis 2007, wo aus Anlass jeder Primärrechtsänderung ein spezielles Bundesverfassungsgesetz beschlossen wurde.

Eine dritte Gruppe von Verfassungen enthält Bestimmungen, die ganz allgemein für Primärrechtsänderungen gelten und die in Anlehnung an die Klauseln über die Verfassungsänderung konzipiert sind. Ein Beispiel für eine solche Regelung enthält die Belgische Verfassung, wenn sie die Regierung verpflichtet, die beiden Kammern des Parlaments von der Eröffnung der Verhandlungen über Primärrechtsänderungen zu informieren. Andere Beispiele geben jene Klauseln in der deutschen und seit kurzem auch in der österreichischen Verfassung, die Primärrechtsänderungen einer parlamentarischen Genehmigung mit verfassungsändernden Mehrheiten unterwerfen; und ein letztes Beispiel bildet auch der neue Art 88-7 der französischen Verfassung, nach dem jeder Beitritt eines weiteren Mitgliedstaates zur Union vom Präsidenten vor der Ratifizierung einem Volksentscheid unterbreitet werden muss.

Damit komme ich zu einem weiteren Themenfeld, dem Sekundärrecht von Gemeinschaft und Union, also zu Verordnungen [regulations], Richtlinien [directives] und zu den in den letzten Jahren immer wichtiger gewordenen Rahmenbeschlüssen [framework decisions]. Ihre Erlassung ist, da in den Gründungsverträgen detailliert geregelt, nach dem traditionellen Zugang kein Thema der nationalen Verfassungen. Seit Mitte der Neunzigerjahre wächst aber doch die Zahl von Staaten, die einen alternativen Ansatz verfolgen und teils Lücken füllen, teils die ihnen durch das Gemeinschaftsrecht eröffneten Spielräume nutzen. Denn traditionell stellen die europäischen Angelegenheiten eine Domäne der auswärtigen Gewalt dar – und damit eine Prärogative der Exekutive. Das ist neben der zunächst schwachen Rolle des Europäischen Parlaments der Hauptgrund für das viel beklagte Demokratiedefizit der Union, und es ist seit langem ein Grund für die Unzufriedenheit der nationalen Parlamente. Unter dem Druck dieser Parlamente sind viele Staaten dazu übergegangen, die gesetzgebenden Körperschaften in der Erzeugung des Sekundärrechts einzubinden. Weit verbreitet sind Bestimmungen, die die Regierung zur Information des Parlaments über laufende Vorhaben auf der Ebene der Union verpflichten; sie existieren im Vereinigten Königreich, in Belgien, in Finnland, in Deutschland, in Frankreich und in einigen weiteren Mitgliedstaaten. Mitunter ist wie in Frankreich dem Parlament die Möglichkeit verbürgt, seiner Auffassung durch Entschließung Ausdruck zu verleihen; mitunter ist wie in Deutschland festgelegt, dass die Stellungnahmen des Parlaments von der Regierung berücksichtigt werden müssen; vereinzelt ist sogar angeordnet, dass eine parlamentarische Stellungsnahme den Vertreter im Rat bei seiner Abstimmung bindet. Das ist in Österreich der Fall, freilich mit der Maßgabe, dass Abweichungen aus zwingenden außen‑ oder integrationspolitischen Gründen zulässig sind, sofern sie dem Parlament gegenüber rechtzeitig kommuniziert werden. Derartige Regelungen sind meist in die Verfassungsform gekleidet, das ist aber nicht überall der Fall. Mitunter begnügt man sich mit parlamentarischen Gepflogenheiten, und in einigen Staaten erfolgt die Regelung in Gesetzesform wie beispielsweise in Italien durch die legge Buttiglione aus dem Jahr 2005. Einzelne Staaten sehen bei dieser Gelegenheit für die Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen auch gleich ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren vor.

Ein weiterer Grund, die vom Gemeinschaftsrecht eröffneten Spielräume zu nutzen und Lücken durch nationales Verfassungsrecht zu schließen, liegt in der Binnenstruktur mancher Mitgliedstaaten begründet. Die Bundesstaatsblindheit der Europäischen Union bedeutet in Verbindung mit ihrer Exekutivlastigkeit, dass in einem Bundesstaat die Gliedstaaten leicht unter die Räder geraten. Die Mitwirkung an den Vorhaben im Rahmen der europäischen Integration gehört zur Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt, und die Kompetenz zur Besorgung der äußeren Angelegenheit liegt bei allen Bundesstaaten bei der Zentralebene. Bundesstaaten versuchen deshalb oft, durch nationales Verfassungsrecht einen Ausgleich zu schaffen. Wenn von einem europäischen Rechtsakt ausschließlich oder überwiegend die Länder betroffen sind, so liegt die parlamentarische Mitwirkung in Deutschland bei dem Bundesrat als der Länderkammer; in Österreich sind die Länder zu unterrichten, und der Bund ist bei Verhandlungen und Abstimmungen im Rat an eine einheitliche Stellungnahme der Länder gebunden. Überdies besteht in einigen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, mit der Vertretung der nationalen Interessen im Rat einen Ländervertreter zu betrauen. Deutschland und Österreich sehen das in ihren Verfassungen vor, und in Italien können auf Basis der einfachen Legge La Loggia 2003 an Stelle des Vertreters der Zentralregierung ein Vertreter der Regionen in den Rat entsandt werden.

Man könnte die Beispiele vermehren, man könnte noch weitere Themen vergleichend unter die Lupe nehmen. Ich will aber hier besser innehalten und die vielleicht wichtigere Frage aufwerfen, ob sich für diese unterschiedlichen Muster plausible Erklärungen finden.

Im Spiegel der nationalen Verfassungen ist die Union teils eine internationale Organisation wie andere auch, teils stellt sie etwas Besonderes dar. Wenn ich das zum Streit über die Einordnung der Europäischen Union in die allgemeinen Kategorien der Staatenverbindungen in Beziehung setze, dann liegt es nicht fern zu sagen, dass die Union im Spiegel der nationalen Verfassungen ganz unterschiedlich eingeordnet wird. Bald wir sie als rein völkerrechtlich verfasster Staatenbund betrachtet, bald als eine im eigenen Verfassungsrecht berücksichtigte zentrale Ebene, die an die föderale Ebene in Bundesstaaten gemahnt, die in den gliedstaatlichen Verfassungen regelmäßig ähnlich prominent herausgestrichen wird. Spezielles Europaverfassungsrecht ist in der ersten Gruppe entbehrlich, nur in der zweiten besteht nach ihm Bedarf. Und wenn wir nach den Motiven fragen, die hinter der Erlassung solch spezifischen Europaverfassungsrechts stecken, dann können wir unschwer zwei Hauptanliegen identifizieren: hier die Sicherung des Einflusses der Parlamente gegenüber der Regierung, dort die Sicherung der Kompetenzen der Gliedstaaten gegenüber der Zentrale.

In der Praxis haben sich die mit diesen Instrumenten verbundenen Hoffnungen allerdings nicht erfüllt. Die Bilanz ist hier wie dort ernüchternd, sowohl parlamentarische Stellungnahmen als auch Stellungnahmen der Länder sind seltene Ausnahmen geblieben. Das liegt vor allem daran, dass die vielen Informationen über die Vorhaben auf europäischer Ebene weder von den Parlamenten noch von den Gliedstaaten effektiv verarbeitet werden können.

Woran aber liegt es, dass wir zwei unterschiedliche Zugänge haben? Haben sie etwas mit der Europafreundlichkeit des betreffenden Mitgliedstaates zu tun, besteht also mit anderen Worten eine Korrelation zwischen dem Wunsch nach einer starken, tendenziell bundesstaatsähnlichen Union und einem bundesstaatlichen Zuschnitt des Europaverfassungsrechts? Ich bin geneigt, diese Frage zu verneinen und die Gegenthese aufzustellen, dass die Wahl des Zugangs in erster Linie von der nationalen Verfassungskultur abhängt. Zum einen springt ins Auge, dass die Bundesstaaten tendenziell einen bundesstaatlichen Zugang zur Union präferieren. Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass Staaten mit ausgeprägter Gewaltenteilung die entsprechenden Regelungen in die Verfassungsform kleiden, während sich Staaten mit schwächerer Gewaltenteilung mit einfachen Gesetzen oder Gepflogenheiten begnügen. Nur bei den Bekenntnissen zur Unionsmitgliedschaft in den Verfassungen könnte es sein, dass sie mit der Rolle von Deutschland und Frankreich als den wichtigsten Motoren der Union etwas zu tun hat. Aber auch insofern ist nach dem französischen Votum zum Verfassungsvertrag und zu den ihn begleitenden Verfassungsänderungen manches nicht mehr so, wie es zu Zeiten der Gründung der Union einmal war.

IV.

Damit komme ich aber zur Vorrangfrage zurück. Sie ist bis heute ungelöst, und alle Hoffnungen, die verhärteten Fronten könnten sich aufweichen, haben sich zerschlagen. Der Europäische Gerichtshof hat nicht nur an seiner Rechtsprechung festgehalten; er hat im Urteil Simmenthal II sogar ausdrücklich festgehalten, dass auch das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten in seiner Gesamtheit jeder europäischen Rechtsvorschrift Platz machen muss. Einzelne Gerichte der Mitgliedstaaten sind dieser Auffassung beigetreten, sie sind aber umgehend von ihren eigenen Höchstgerichten korrigiert worden. Cum grano salis kann man in der ganzen Union sagen, dass die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten von einem Primat des nationalen Verfassungsrechts ausgehen. Wieweit dieser Primat reicht, lässt sich nicht allgemein bestimmen, weil das naturgemäß von den konkreten Regelungen der Verfassungen und ihrer Einstellung gegenüber dem Europarecht abhängt. Aus nationaler Perspektive gibt es zum Vorrang der Verfassung aber grundsätzlich gar keine Alternative, weil der für den nationalen Richter relevante Rechtsanwendungsbefehl, mag er sich auch aus den Gründungsverträgen ergeben, ein durch den nationalen Rechtsanwendungsbefehl vermittelter ist. Sähen die Gerichte das anders, würden sie aufhören, nationale Gerichte zu sein und sich als europäische Gerichte verstehen.

Wir haben es also mit konkurrierenden Deutungen zu tun. Das Unionsrecht ist beiden Deutungen gegenüber offen und konnte daher den Streit nicht entscheiden. Die Vorrangsproblematik ist deshalb bis heute ein Herd von Konflikten geblieben. Wer das letzte Wort hat, darauf kommt es aber nur dann entscheidend an, wenn die beiden Seiten unterschiedlicher Meinung sind. Es braucht immer Themen, an denen sich Konflikte entzünden, weil Europarecht und nationales Verfassungsrecht miteinander Unvereinbares fordern. Soweit es inhaltlich keine Unterschiede gibt, kann man mit unterschiedlichen Vorrangansprüchen leben.

Ein derartiges Themenfeld habe ich Ihnen bereits vorgestellt. Die Vorrangproblematik ist von den Gerichten erstmals im Zusammenhang mit den Grundrechten aufgegriffen worden. Nationale Verfassungsgerichte haben aus dem Fehlen eines europäischen Grundrechtskataloges ein Argument gegen den Vorrang gemacht; der Europäische Gerichtshof hat diesem Argument dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht, indem er die Lücke mit seiner Rechtsprechung geschlossen hat. Die jüngere Entwicklung hat dieses Feld zwar nicht komplett befriedet, aber doch eine weitere Annäherung der Standpunkte gebracht. Dazu haben drei Faktoren beigetragen.

Ein Faktor liegt ohne Zweifel darin, dass es im Jahre 2000 gelungen ist, sich mit der Charta der Grundrechte in der Union auf einen geschriebenen Grundrechtekatalog zu verständigen. Dass die Charta noch immer nicht verbindlich ist, tut ihrer symbolischen Relevanz keinen Abbruch.

Der zweite Faktor ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes selbst. Der Gerichtshof nimmt vor allem die Gleichheitsverbürgungen im Unionsrecht ernst und hat Standards entwickelt, die über jene der nationalen Verfassungsgerichte hinausgehen. Das ist keine Überraschung. Seit jeher haben sich die Gleichheitsrechte angeboten, um nationale Sonderregelungen aufzubrechen und für Rechtseinheit zu sorgen. Schon die Habsburgermonarchie hat sie deshalb forciert. Anders sieht es bei den Freiheitsrechten aus. Sie werden vom Europäischen Gerichtshof zwar oft zitiert, aber selten gegen die europäischen Gewalten in Stellung gebracht: Entscheidungen, in denen europäisches Recht als grundrechtswidrig qualifiziert worden wäre, muss man mit der Lupe suchen. Die nationalen Verfassungsgerichte haben viel höhere Standards gesetzt.

Der entscheidende Faktor ist jedoch, dass es neben den nationalen Grundrechten und den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts noch eine dritte Ebene gibt, die für eine schrittweise Annäherung sorgt. Diese dritte Ebene ist die Europäische Konvention der Grundfreiheiten und Menschenrechte. Sowohl die Grundrechte der Charta als auch die in der Luxemburger Rechtsprechung geschöpften Grundrechte haben sie als wichtigste Inspirationsquelle genutzt. Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gibt es außerdem ein Gericht, das über die Einhaltung der in der Menschenrechtskonvention verankerten Rechte wacht. Europäischer Gerichtshof und nationale Verfassungsgerichte befinden sich dem Straßburger Gerichtshof gegenüber in einer ganz ähnlichen Lage. Beide Seiten vollziehen zunehmend nach, was Straßburg in seinen Entscheidungen vorgibt, denn aus prozessualen und aus völkerrechtlichen Gründen hat Straßburg das letzte Wort. Weder können es sich die Verfassungsgerichte leisten, die nationalen Grundrechte auf eine Art und Weise auszulegen, die Konflikte mit der Konvention heraufbeschwört, noch kann Luxemburg die Union und die Gemeinschaft dort verschonen, wo Straßburg die Antworten der Sache nach längst gegeben hat. Ergebnis ist ein Kooperationsverhältnis der drei Ebenen, in denen sich alle um eine vernünftige Arbeitsteilung bemühen. Das hat die Vorrangproblematik wesentlich entschärft.

Das zweite Themenfeld ist die Sorge um die nationale Souveränität. Politisch liegt hierin das wichtigste Motiv für den Widerstand gegen einen unbeschränkten Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Juristisch ist Souveränität allerdings nicht leicht zu fassen. Einige Verfassungsgerichte haben Souveränität mit einer nationalstaatlichen Demokratiekonzeption gleichgesetzt. Sie haben deshalb Widerstand gegen das Wahlrecht der Unionsbürger entwickelt und die in den nationalen Verfassungen enthaltenen Vorbehalte für Staatsangehörige im öffentlichen Dienst zu verteidigen versucht; und sie haben Kompetenzübertragungen an Gemeinschaft und Union mit Skepsis betrachtet, weil durch sie der nationalen Demokratie immer weniger zu bestimmen bleibt. Wer die Entwicklung betrachtet, kommt aber um das Eingeständnis nicht umhin, dass es sich hierbei um Rückzugsgefechte handelt, bei denen die nationalen Verfassungsgerichte auf verlorenem Posten stehen. Erstens haben nationale Verfassungsänderungen diese Hindernisse noch immer beseitigt, wenn es darauf ankam. Zweitens liegt die Herrschaft über die Verträge ohnehin bei den Nationalstaaten, weil es gegen den Willen eines einzigen Mitgliedstaats keine Vertragsänderung gibt. Drittens hat die Union auf die Souveränitätsbedenken eine überzeugende Antwort gefunden. Was derzeit noch juristisch umstritten ist, soll künftig den Mitgliedstaaten in den Verträgen ausdrücklich zugestanden werden: die Möglichkeit nämlich, durch Austritt aus der Union ihre volle Souveränität zu wahren.

Die erwähnten Verfassungsänderungen in den Mitgliedstaaten haben die dem Europarecht von den Gerichten gesteckten Grenzen aber nicht nur hinausgeschoben; sie haben sie vielfach zugleich auch bestätigt. Und das leitet über zu einem dritten Bereich, in dem sich Konflikte entzünden könnten. Die Verfassungen können vor den Regelungs‑ und Vorrangansprüchen der Gemeinschaft deshalb nicht ständig weiter zurückweichen, weil sie nicht beliebig änderbar sind. Einige Verfassungen enthalten einen starren Kern, der teils nur äußerst schwer zu ändern ist und der teils überhaupt nicht zur Disposition verfassungsändernden Mehrheiten steht. Klassisches Beispiel ist die Ewigkeitsklausel des Bonner Grundgesetzes, die die Gliederung des Bundes in Länder, die Existenz von Grundrechten und die Grundsätze der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit von Änderungen ausnimmt. Griechenland hat für die Menschenrechte und für die Grundlagen demokratischer Staatsordnung eine vergleichbare Regelung, Frankreich und Italien erklären in ihren Verfassungen die republikanische Staatsform für unabänderbar, die dänische Verfassung tabuisiert die souveräne Staatlichkeit, und selbst die ungeschriebene britische Verfassung enthält in Form des Prinzips der Parlamentssouveränität einen ewigen Verfassungsartikel, dessen Inhalt sich dahingehend zusammenfassen lässt, dass es ewiges Verfassungsrecht nicht geben darf, weil es unzulässig ist, künftige Parlamente irgendwelchen Bindungen zu unterwerfen. Spätestens an diesem unabänderlichen Verfassungskern stößt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf eine unüberwindliche Hürde. Diese Verfassungskerne sind aber zum einen nicht immer hart konzipiert, und zum anderen kommen sie dem Gemeinschaftsrecht selten in die Quere. Deshalb lässt es sich mit dem potentiellen Konflikt gut leben.

Einen weiteren Beitrag zur Befriedung hat das Unionsrecht geleistet, indem es auf die Vorbehalte der Mitgliedstaaten reagiert hat. Seit dem Vertrag von Amsterdam erklärt es in Art 6 Abs 1 EUV die Freiheit, die Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit zu Grundsätzen, auf denen die Union beruht und die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind; und seit dem Vertrag von Maastricht erkennt es in Art 6 Abs 3 EUV die nationale Identität der Mitgliedstaaten ausdrücklich an. Europarechtler können diese Bestimmungen als Bestätigung des Vorrangs des Europarechts, Verfassungsrechtler der Mitgliedstaaten als Bestätigung eines dem Zugriff der Union entzogenen Bereiches regeln. Entscheidend ist aber letzten Endes der Gleichklang der Werteformeln, der die Konfliktefelder zudeckt und die Vorrangfrage in der Schwebe lässt.

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