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EINFÜHRUNG

In der vorliegenden Monographie soll ein Versuch der Ergänzung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule durch die russische philosophische Tradition unternommen werden. Als Grundlage dieser Analyse dient die Theorie des kommunikativen Handelns von Jьrgen Habermas, herangezogen werden auch spдtere Texte dieses Wissenschaftlers sowie einige Ideen von Axel Honneth und Rainer Forst. Die Entscheidung fьr diese Theorie erklдrt sich daraus, dass sie eine universelle Synthese von Philosophie und Soziologie ist, auf der Grundlage eines intersubjektiven Verstдndnisses der Vernunft. Letzteres setzt die Idee eines in der Sprache verborgenen emanzipatorischen Potentials voraus. Die Entfaltung dieses Potenzials kann bewirken, soziale Institutionen auf die Verwirklichung von Idealen der Gerechtigkeit hin zu bewegen. Davon ausgehend, hat Habermas eine synthetische Gesellschaftstheorie entwickelt, die sich an der schцpferisch-konstruktiven Verдnderung der existierenden sozialen Realitдt orientiert. So synthetisiert die Theorie von Habermas das Episteme und die Praxis, gibt dem kritischen Denken einen neuen Impuls: Es geht um dessen Verwirklichung im Leben und gleichzeitig um die Befreiung von Gewalttendenzen oder vom Pessimismus (als der Kehrseite des letzten): Vernunftideale darf man der Gesellschaft nicht aufzwingen, vielmehr muss man zu deren immanentem Ausreifen in der existierenden vielfдltigen institutionellen Realitдt beitragen. Die Tдtigkeit der kritischen Цffentlichkeit hцrt deshalb auf, sich nur auf den Bereich der politischen Praxis oder selbstgenьgsamer wissenschaftlicher Forschungen zu begrenzen, sondern geht ьber deren Grenzen hinaus – Voraussetzungen fьr eine solche Tдtigkeit gibt es in jeder sozialen Institution. Alle Prozesse der Verstдndigung zwischen konkreten vernьnftigen Wesen (und nicht die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung zwischen den groЯen antagonistischen und unpersцnlichen Klassen), die als Bдche zu einem starken Strom zusammenflieЯen, werden zu Triebkrдften des sozialen Fortschritts, und der Erfolg der kommunikativen Prozesse gibt Kriterien fьr dessen Erkennen bei gleichzeitiger Abschwдchung des Glaubens an einen linearen Fortschritt.

Diese Ideen sollen im Text des Buches selbst ausfьhrlicher erlдutert werden; an dieser Stelle sollen das Ziel des Autors und die sich daraus ergebende Begrьndung fьr eine zweisprachige Ausgabe der Monographie aufgezeigt werden.

Das Ziel besteht in der schцpferischen Entwicklung der kommunikativen Theorie der Vernunft (hier kцnnen natьrlich nur einige Richtungen dieses Projekts angefьhrt werden). Diese anspruchsvolle Absicht soll der Logik von Habermas‘ theoretischem Systems adдquat sein und zugleich Wege zur Lцsung einiger in diesem System nicht gelцster Probleme aufzeigen – von Problemen, die in der jahrzehntelangen Diskussion der „Theorie des kommunikativen

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Handelns“ von vielen Lesern und Kritikern dieses Philosophen in der wissenschaftlichen Цffentlichkeit formuliert wurden. So verfolgt der Autor eine dialektische Aufgabe: erstens, Ideen von Habermas als ein einheitliches System im Ganzen darzulegen, die sich aufgrund der universellen Prinzipien der Vernunft in ihrem neuen – kommunikativen –Verstдndnis entfalten, und, zweitens, Voraussetzungen fьr dessen Weiterentwicklung durch die Ьberwindung von einigen einseitigen, zu formalen oder zu abstrakten Momenten innerhalb dieses Systems zu finden. Dementsprechend hat der Autor vor, auf diesen Voraussetzungen aufbauend, Ideen der russischen philosophischen Tradition einzubeziehen: nicht nur um die Habermas‘sche Theorie zu bereichern, sondern auch um sie auf weitere Themenbereiche (z.B. Globalisierungsprozess, Analyse der kommunikativen Vernunft und der gesellschaftlichen Ordnungen in Russland, die durch viele spezifische Besonderheiten im Vergleich mit den abendlдndischen Ordnungen gekennzeichnet sind) anzuwenden. Es handelt sich dabei um eine eigenmдchtige Rekonstruktion der Habermas‘schen Theorie aufgrund der Idee „der Einheit der kommunikativen Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“: eine Rekonstruktion, die spдter zu einer solchen Dekonstruktion fьhrt, die geeignet ist, aus den Elementen dieses Systems, durch das Hinzufьgen neuer Elemente, eine neue theoretische Synthese zu schaffen (in dieser Monographie sollen nur einige Ideen zu dieser zukьnftigen Synthese geдuЯert werden).

Jetzt steht der Autor vor der Aufgabe, die Notwendigkeit der Zuwendung gerade zur russischen Philosophie und den russischen Sozialwissenschaften fьr die schцpferische Auseinandersetzung mit der Theorie von Habermas zu begrьnden. Man kann zahlreiche Ьberlegungen ьber die gemeinsamen Seiten in der Geschichte Russlands und Deutschlands anstellen – sowie ьber die bedeutende Rolle der aus Deutschland Stammenden fьr die Entstehung des modernen Staatsapparates in Russland in der Zeit nach Peter dem GroЯen, oder ьber den stetigen Erfahrungsaustausch im System der universitдren Bildung – das russische System war bis in die jьngste Zeit (bis zur Einfьhrung von Bachelorsund Master-Studiengдngen) im Wesentlichen am deutschen orientiert; und auch ьber die gegenwдrtigen partnerschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Lдndern, von den wirtschaftlichen bis zu den menschlichen, dank denen sich heutige Russen gerade in Deutschland viel geborgener als in den anderen westeuropдischen Lдndern fьhlen, was soziologische Untersuchungen belegen. Gerade dieses Verhдltnis ruft das groЯe Interesse russischer Wissenschaftler fьr das deutsche Denken hervor – zunдchst halten wir es fьr wichtig, die deutsche Tradition zu erforschen, um damit umgehen zu kцnnen; dann soll versucht werden aufzuzeigen, dass es auch in unserer Denktradition Ideen gibt, die die deutsche Tradition bereichern kцnnten. Deshalb versuchen wir, uns von der deutschen Tradition zu distanzieren und selbstдndig zu denken (solche hermeneutische Bemьhungen machen wir auch

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im Verhдltnis zu unserer russischen Tradition). Diese Darlegung soll aber der Theorie von Habermas selbst immanent sein und nicht kьnstlich von auЯen durchgefьhrt werden – durch die Hinzufьgung des fremden Inhaltes zu seinem schon vollkommenen theoretischen System.

Ohne den Inhalt des vorliegenden Buches hier wiederzugeben, mцchte der Autor anmerken, dass sich dieser Ansatz aus der gesamten Logik der kommunikativen Theorie der Vernunft ergibt; im zweiten Kapitel des Buches werden (vom Standpunkt des Autors) Schwachstellen der Habermas‘schen Theorie nдher bestimmt, die mцglicherweise durch die Einbeziehung von Ideen russischer Denker kompensiert werden kцnnen. Wenn die Vernunft in der Sprache, in den Voraussetzungen der Verstдndigung zwischen Kommunikationsteilnehmern zugegen ist, dann erlaubt es die Bezugnahme auf die russischen Sprache, auch in ihr solche Voraussetzungen zu entdecken und ebenso die Geltung der Theorie Habermas‘ fьr das Material dieser Sprache (die ja nicht zu den germanischen Sprachen, wie Englisch und Deutsch, gehцrt) zu prьfen. (Diese anspruchsvolle Aufgabe lдsst sich in dieser Monographie natьrlich nicht lцsen, aber einige Ideen dazu sollen geдuЯert werden.)

Mehr noch: Fьr die Theorie von Habermas ist prinzipiell wichtig, das Gleichgewicht zwischen drei Formen der Vernunft aufzuzeigen: die kognitivinstrumentelle, die moralisch-praktische und die дsthetisch-expressive Form. Wie im ersten Kapitel gezeigt wird, besteht eine der wichtigsten sozialen Pathologien in der Verabsolutisierung gerade der ersten Form, die ihre Verwirklichung im Prozess des Funktionierens des von der Lebenswelt verselbstдndigten gesellschaftlichen Systems findet, sowie in der Stцrung der freien Entwicklung der zwei weiteren Formen. Die gesamte Habermas’sche Theorie ist in der Tat aus dem Streben zu verstehen, das dreiseitige Gleichgewicht zwischen diesen Formen der Vernunft auf einem neuem Niveau herzustellen. Das wьrde aber im Grunde genommen ein anderes Modell der gesellschaftlichen Rationalisierung bedeuten, als dasjenige, was sich im Westen entwickelt und sich mit dem Siegeszug des westlichen gesellschaftlichen System in der ganzen Welt als das Ergebnis der Globalisierung etabliert: Die Palme des Sieges sollte vom Wissen und von der Technologie ьber die Moral an die persцnlichen Selbstverwirklichung ьbergegeben werden, sonst bleiben die Schlussfolgerungen von Habermas nur ДuЯerungen des guten Willens des Philosophen. Dabei darf man nicht in einen vormodernen gesellschaftlichen Zustand zurьckfallen und auch nicht verlangen, die heutige Weltanschauung religiцsen Werten unterzuordnen. Diese Aufgabe erinnert an den bekannten Mythos des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis: man soll die Moderne durch paradoxales Zurьckgreifen auf noch nicht realisierte Mцglichkeiten der westlichen Variante gesellschaftlicher Entwicklung voranbringen und dabei die besten Errungenschaften dieser Variante nicht verlieren. Und dazu muss die

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kommunikative Vernunft anders in Kraft gesetzt werden, als es in der solchen Moderne der Fall ist, soweit wir das bis jetzt wissen.

In diesem Buch sollen nur einige Varianten der Lцsung solcher umfassenden Aufgaben aufgezeigt werden. Im ersten Kapitel wird ein derartiges Modell der kommunikativen Vernunft ausgearbeitet, dass diese als Einheit die Ausdifferenzierung der Vernunftformen in sich enthдlt. Dadurch kann sich die kognitive Form der Vernunft von der moralischen und der дsthetischen Form absondern, ohne die Beziehungen zu ihnen zu verlieren: gerade der entscheidende Fortschritt im Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung, der in der Individualisierung, im Werden der modernen Subjektivitдt besteht, ist eine der Hauptbedingungen der Autonomie der kognitiv-instrumentellen Tдtigkeit. Und diese Subjektivitдt der Moderne soll im moralisch-praktischen Bewusstsein und in einer bestimmten Form дsthetischer Erfahrung, auЯer dem instrumentell-techni-schen Handeln, ihre Grundlage finden, sonst ist sie instabil (z.B. wenn das moralische Bewusstsein vцllig konventionell ist, kann sich die Subjektivitдt von dem kollektiven Bewusstsein nicht vollkommen loslцsen). Das sind nur einige Vermittlungen zwischen verschiedenen Formen der Vernunft, die hier als Beispiele angefьhrt sind – ausfьhrlicher sollen sie im ersten Kapitel analysiert werden. Daraus geht hervor, dass die Einheit der Vernunft im Ganzen gerade durch Beziehungen jeder Vernunftform zu den anderen Formen erhalten wird. Das bedeutet eine Einheit, die Verschiedenheiten voraussetzt, aber nicht zerfдllt.

Hier lassen sich neue Vermittlungen zwischen verschiedenen Formen der Vernunft und die Art und Weise ihrer Bereicherung durch den Inhalt anderer Formen finden: Kann z.B. die дsthetische Form auf einem neuem Niveau zur Ausarbeitung des Gerechtigkeitsideals beitragen? Auf diese Frage kцnnte die Analyse der russischen Sprache eine Antwort geben, und dadurch die Vorwegnahme anderer Formen des Selbstbewusstseins finden, im Vergleich mit denen, die die Subjektivitдt der Moderne voraussetzen, mit dem klaren Primat der erkennenden Krдfte ьber die emotionalen. Diese Methode wird im zweiten Kapitel aufgezeigt. Hier soll nur angemerkt werden, dass die Einbeziehung des sprachlichen Bewusstseins der Russen etwas Anderes und mehr bedeutet, als nur die Verifizierung der Theorie von Habermas im Material der anderen Sprache: Hoffentlich gibt das dieser Theorie einen neuen Impuls. Was die russische philosophische Kultur im allgemeinem betrifft (obgleich Habermas sich mit ihr niemals wissenschaftlich auseinandergesetzt hat), dann hat sie die Suche des deutschen Denkers nach solchen Formen der Solidaritдt, in den die Gesellschaft und die Personen ein harmonisches Gleichgewicht miteinander finden, vorweggenommen. Aber das russische Denken hat eine „Reserve“, die im Westen bis jetzt noch nicht genьgend zur Wirkung kam: das ist die Fдhigkeit jedes Menschen zur Liebe im Form der Agape. Hier цffnet sich die Aussicht, eine neue Dimension der menschlichen Gattung einzubeziehen, ohne die

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Errungenschaften der Aufklдrung in Zweifel zu ziehen und sie zu verneinen: Die Liebe fьhrt zur Erneuerung der Persцnlichkeit und ihrer Einstellungen zur Welt, zu anderen Menschen und sich selbst. Wie das mцglich ist, soll eines der Themen des zweiten Kapitels werden. Und es hat noch eine weitere Funktion – die Beschreibung der Pathologien der spдten Moderne, die in der Sperrung gerade dieses Entwicklungsweges der kommunikativen Rationalisierung besteht, was zur anthropologischen Katastrophe fьhren kann…

Ich mцchte den russischen und deutschen Kollegen und Institutionen danken, die es ermцglicht haben, die Ausarbeitung der vorliegenden Monographie zu verwirklichen:

1.Der Redakteurin der Zeitschrift „Kant-Studien“ bei der KantsForschungsstelle an der Universitдt Mainz, Dr. phil. Margit Ruffing, sowie dem Leiter des „Makarenko-Referats“ an der Universitдt Marburg, PD Dr. phil. Gцtz Hillig – fьr ihre starke Unterstьtzung bei der Ьbersetzung des vorliegenden Textes ins Deutsche.

2.Dem Wissenschaftlichen Rat der Murmansker Staatlichen Humanitдren Universitдt und persцnlich deren Rektor, Dr. phil. habil., Professor Andrej Sergejew – fьr die Ernennung des Autors zum wissenschaftlichen Mitarbeiter am Murmansker Staatlichen Humanitдren Universitдt wдhrend dessen insgesamt zweijдhrigen Forschungsaufenthaltes in Frankfurt am Main.

3.Dem Professor der Philosophischen Fakultдt der Sankt-Petersburger Universitдt, Dr. phil. habil. Anatolij Kolesnikov, ehemaligen Leiter des Lehrstuhls fьr moderne auslдndische Philosophie – fьr seine langjдhrige wissenschaftliche Betreuung des Autors und fьr alle seine Gutachten zu dessen Projekten, die seine Aufenthalt in Frankfurt am Main ermцglichten.

4.Der Stiftung DAAD – fьr das zweimonatige Stipendium im Sommer 2010 fьr Forschungen des Autors an der Universitдt Frankfurt am Main.

5.Der Alexander von Humboldt Stiftung, die den Aufenthalt des Autors in Deutschland seit September 2010 bis Juni 2012 als Begleiter der Stipendiatin dieser Stiftung Dr. pдd. Anna Shachina finanziert hat; mein Dank gilt auch ihr und unseren Kindern Mariia und Georgii. Durch ihre Unterstьtzung hatte ich die Mцglichkeit, wдhrend unseres gemeinsamen Aufenthaltes in Deutschland am Text der Monographie zu arbeiten.

6.Dem Direktors des Institutes fьr Sozialforschung an der J.W. GoetheUniversitдt Frankfurt am Main Dr. phil. habil., Prof. Axel Honneth fьr die Idee der Monographie selbst und einige fruchtbare Konsultationen sowie fьr die Gastfreundschaft an der Universitдt Frankfurt am Main.

7.Professor Jьrgen Habermas selbst – fьr seine Bьcher, die er dem Autor geschenkt hat, fьr seine langjдhrige moralische Unterstьtzung und sein Interesse an meinen wissenschaftlichen Studien und generell an meinem Leben sowie fьr die Begutachtung dieser Monographie.

8.Den Teilnehmern des Kolloquiums fьr junge Wissenschaftler und Doktoranten von Axel Honneth (2011–2012), vor allem Titus Stahl, Frieder

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Fцgelmann, Daniel Loick, Julia Christ, Kristine Lapold – fьr die freundliche Kritik und einige fruchtbare Ideen, die sie wдhrend der Besprechung der Monographie in der Sitzung des Kolloquiums am 19. Mai 2011 geдuЯert haben.

9. Den Teilnehmern des Kolloquiums fьr junge Wissenschaftler und Doktoranten von Heiner F. Klemme und besonders – dem Kolloquimsleiters,– fьr die moralische Unterstьtzung und einige interessante Ideen, die sie wдhrend der Besprechung dieses Textes in der Sitzung des Kolloquiums am 5. Mai 2011 geдuЯert haben; dem Leiter der Kant-Forschungsstelle am philosophischen Seminar der Universitдt Mainz, Dr. phil. habil. Prof. Heiner F. Klemme – fьr die Gastfreundschaft an der Universitдt Mainz.

All diesen Kollegen/innen und sozialen Institutionen widmet der Autor seine Monographie.

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1. ZUR REZEPTION DER PHILOSOPHIE VON JЬRGEN HABERMAS IN RUSSLAND (VERSUCH EINES ЬBERBLICKS VOM STANDPUNKT DER SANKT-PETERSBURGER PHILOSOPHISCHEN SCHULE)

Die Relevanz der Philosophie von Jьrgen Habermas fьr das abendlдndische Selbstverstдndnis erfordert wohl kaum Beweise. Die kommunikative Theorie der Vernunft ist die Grundlage einer Gesellschaftstheorie, die wissenschaftliche Analyse mit normativer Perspektive verbindet und die gesellschaftliche Entwicklung als allmдhliche Verwirklichung der Vernunftideen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Authentizitдt der Lebensfьhrung expliziert. Als theoretische Philosophie erцffnet dieser Ansatz neue Wege zur Begrьndung der Rationalitдt und eine Erklдrung des Bewusstseins, die sich auf fundamentale Einsicht in die Intersubjektivitдt stьtzt.

Es ist zu erwarten, dass die kommunikative Theorie der Vernunft von Jьrgen Habermas Chancen hat, auch fьr Russland relevant zu werden. Fьr mein Land sind „nachholende Modelle der Modernisierung“ kennzeichnend. Unter der bolschewistischen Regierung hat der Staat alle produktiven Krдfte auf sich konzentriert, mit ideologischen und gewaltsamen Mitteln mobilisiert und so das Land industrialisiert. Dieses Gesellschaftsmodell hat aber im Zeitalter des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in Konkurrenz mit westlichen Modellen verloren, weil es der fьr die Entwicklung hoher Technologiestandards unentbehrlichen persцnlichen Freiheit wenig Spielraum gelassen hat. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staates gibt es eine Aussicht auf Modernisierung. Nach Forschungsergebnissen gegenwдrtiger deutscher Sozialphilosophen, Ergebnissen der heutigen Analysen, ist es fьr eine erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Gerechtigkeit und Freiheit zu finden (vgl.: Patzelt, 2007). Wдhrend in der Sowjetzeit die Gerechtigkeit der Freiheit ьbergeordnet wurde und in der Form egalitдrer Verteilung existierte, wurde in den 1990-er Jahren dieser Umstand in umgekehrter Richtung verдndert. Die gesellschaftliche Elite bekam alle Freiheiten bei der Realisierung ihrer цkonomischen Interessen, hatte dabei aber kaum ein Verstдndnis vom Allgemeinwohl. Die Elite ist in sich geschlossen, und die Prozesse ihrer Rьckkopplung mit der bьrgerlichen Gesellschaft sind gestцrt.

Man kann in den letzten Jahren einen gesellschaftlichen Fortschritt in Russland beobachten, weil sich sowohl moderne Technologien ausbreiten als auch ein groЯer Teil der jungen Generation westliche Bildung erlangt, was zu Дnderungen im Weltverstдndnis und sozialen Habitus fьhrt. Das Bekanntmachen der russischen Gesellschaft mit Ideen von Jьrgen Habermas wird, so kann man annehmen, positive Auswirkungen haben:

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1.Es trдgt zur Bildung eines gemeinsamen Welt-, Gesellschaftsund Selbstverstдndnisses von Intellektuellen und qualifizierten Arbeitskrдften bei.

2.Es wird kommunikativen Prozessen mit dem Ziel der Bestimmung des gesellschaftliches Wohls helfen, weil viele wichtige Probleme in einem neuen Licht gesehen werden: rationale Lebensfьhrung, ethische Verantwortung, die Suche nach gesellschaftlichem Konsens u.a.m.

3.Aufgrund der Beschleunigung kommunikativer Prozesse wird eine Ьberwindung der Entfremdung der Elite von der ьbrigen Bevцlkerung mцglich, weil sich zwischen Einzelpersonen vielseitige kommunikative Beziehungen bilden, die Alternativen zu den traditionellen Formen der sozialen Hierarchie sind.

4.Das Potential unserer kulturellen Tradition wird mehr gestдrkt werden, was zu neuen Entdeckungen in den Geisteswissenschaften und auch zum Dialog mit der westlichen Tradition fьhren kann.

Ich setze bei dieser Einschдtzung den Habermasschen Grundgedanken voraus, dass sich durch diskursive Praktiken zusдtzliche rationale Gehalte in der Lebenswelt bilden, diese Gehalte die Diskurse zur Institutionalisierung weiterfьhren kцnnen und neue Mцglichkeiten zur Entwicklung des Gesellschaftssystems durch Дnderungen im Verstдndnis normativer Orientierungen in den sozialen Rollen erцffnen.

Als eines der grцЯten Hindernisse fьr das Verstдndnis von J. Habermas in Russland hat sich der Mangel eines systematischen und umfassenden Ьberblicks ьber sein Denken erwiesen. Die Zahl der Publikationen ьber Habermas’ Schaffen wird immer grцЯer, sechs seiner Werke wurden bereits ins Russische ьbersetzt („MoralbewuЯtsein und kommunikatives Handeln“1, „Die Einbeziehung des Anderen“, „Die Zukunft der menschlichen Natur“, „Kleine politische Schriften“, „Der philosophische Diskurs der Moderne“, „Zwischen Naturalismus und Religion“). Andere wichtige Werke von Habermas sind ins Russisch noch nicht ьbersetzt und deshalb wenig bekannt (auЯer einigen Spezialisten): „Strukturwandel der Цffentlichkeit“ (1963), „Erkenntnis und Interesse“ (1968), „Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus“ (1976), „Nachmetaphysisches Denken I und II“ (1988 und 2012), „Faktizitдt und Geltung“ (1992), „Ach, Europa“ (2009), „Zur Verfassung Europas“ (2011) und viele andere. Es gibt bisher auch keine grundlegende philosophische Interpretation der Schrift „Theorie des kommunikativen Handelns“, auЯer der Monographie des Verfassers (darum wird es im Folgenden gehen). Daher ist das Werk von Jьrgen Habermas bei uns nur fragmentarisch bekannt. Zudem kann fьr die westliche philosophische Tradition die Aufnahme der Ideen von

1

Es ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass dieses Werk von Habermas in

 

 

der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Methodik des

 

Fremdsprachenunterrichts, den Kommunikationsprozess betreffend, aktiv berücksichtigt

 

wird (G.W. Zacharova, Wolgograd – Moskau).

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Habermas als eines ihrer bedeutendsten Vertreter auch auЯerhalb dieser Tradition interessant sein. Dieses Interesse ist dialektisch zu erklдren: Durch Aneignung der westlichen Ideen wird es fьr die russischen Philosophen mцglich, ihre eigene Tradition zu aktualisieren und ihre Kontinuitдt (die aufgrund der sozialen Kataklysmen des 20. Jahrhunderts unterbrochen wurde) wiederherzustellen. Diese Prozesse kцnnen zur Ьberwindung ihrer Isolation und zur vollstдndigen Einbeziehung in die globalen philosophischen Diskurs fьhren, mit der Perspektive einer Bereicherung desselben. Westliche Philosophen kцnnen das lebendige experimentierende Denken – den Prozess des Werdens einer neuen russischen philosophischen Tradition – beobachten, sowie auch die Mцglichkeit wahrnehmen, indirekt Einfluss auf diesen Prozess auszuьben, indem sie ihre eigenen Ьberlegungen zur Rezeption und Interpretation westlicher Ideen дuЯern und so die Erforschung russischer Denker anregen und fцrdern. Die Philosophie von Jьrgen Habermas dient hier als vorbildliches Beispiel, nicht nur deshalb, weil er einer der fьhrenden Vertreter der abendlдndischen philosophischen Kultur ist, sondern auch, weil seine Ideen, wie z.B. das Gerechtigkeitsprinzip, ein groЯes humanistisches Potential in sich haben, indirekt zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen und auf diese Weise einen der wichtigsten Werte des westlichen Entwurfes gesellschaftlicher Entwicklung im globalen MaЯstab zum Ausdruck zu bringen.

Ohne die Mцglichkeit zu haben, die gesamte Rezeption der Habermasschen Philosophie in der sowjetischen Zeit und im modernen Russland zu skizzieren, legt der Verfasser die wichtigsten Inhalte zweier Schriften moderner Autoren dar, die die philosophische Forschung am Lehrstuhl fьr Auslдndische Philosophie der Gegenwart an der Philosophischen Fakultдt der Sankt-Petersburger Universitдt hervorgebracht hat: Werke von Maja Soboleva und Vladimir Furs. Weiter wird hier die Interpretation der Philosophie von Habermas dargestellt, die der Verfasser in seinem Buch „Kommunikative Theorie der Vernunft von Jьrgen Habermas“ (2010) ausgearbeitet hat. Der Ьbergang zu diesem zweiten Teil des Artikels wird durch konstruktive immanente Kritik der Ansдtze der beiden genannten Autoren gefьhrt: Zunдchst werden deren Ergebnisse der Rezeption von Habermas‘ Philosophie gewьrdigt, darьber hinaus wird aber gezeigt, dass die dialektische Rekonstruktion von Habermas‘ kommunikativer Theorie der Vernunft weitere Vorteile hat – sie erlaubt, den Inhalt des Werkes „Theorie des kommunikativen Handelns“ kompakt und systematisch darzustellen (anstatt der Einbeziehung nur einigen Ideen der Philosophen zur Interpretation).

Die Monographie von Maja Soboleva (sie arbeitet als außerplanmäßige Professorin der Philosophie an der Universität Marburg) ist der gesamten Tradition der Sprachphilosophie in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet. Die Autorin lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Tradition, weil ihre

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Vertreter die Sprache „als die notwendige Bedingung der Erkenntnis, d.h. tatsächlich als deren Faktor a priori betrachtet haben“ (Soboleva, 2005, S. 18). Diese vorläufige Bestimmung der Sprachphilosophie impliziert auch das Ziel der ganzen Untersuchung, d.h. eine neuartige Behandlung des Problems der Erkenntnisbedingungen a priori in der Situation des Pluralismus der Erkenntnisbedingungen und ihrer Dynamik (siehe Soboleva, 2005, S. 392 ff.). Mit anderen Worten: Im westlichen philosophischen Prozess entstehen Zweifel an der Möglichkeit des Wissensgewinns, der keineswegs dem Relativismus (in allen dessen Formen, z.B. des Eurozentrismus oder des Anthropozentrismus) oder dem Fallibilismus unterliegt. Die Philosophie der Sprache erlaubt es, die andere, und zwar im Vergleich zum objektivierenden wissenschaftlichen Verständnis breitere Einsicht in die Rationalität zu erarbeiten, die die Überwindung der Kluft zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft ermöglicht und infolgedessen erlaubt, neue Lösungsansätze für das in der Monographie aufgezeigte Problem zu finden.

Die Ideen von Habermas selbst interpretiert Maja Soboleva im Zusammenhang mit dem beschriebenen Ziel der Monographie. Die Quellen ihrer Untersuchung sind zahlreich und schließen, außer der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), eine Reihe anderer Veröffentlichungen von Habermas ein; das sind in erster Linie „Wahrheit und Rechtfertigung“ (1999), „Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft“ (2001). Wir haben die Absicht, die in Sobolevas Werk gegebene Definition der Rationalität herauszustellen: „Die Rationalität ist nicht nur als bewusste intellektuelle Konstituierung der Bedeutung, […] sondern auch als kategoriales Schema des Sprachspiels konzipiert, so dass sie dank dieser ihrer Bestandteile als Sprache (die strukturbildende Kraft besitzt) und gesellschaftliche Praxis normative Bedeutung bekommt“ (Soboleva, 2005, S. 309). Die gegenseitige Verständigung wird zum Fundament vernünftiger Beziehungen von Menschen, nicht nur zur objektiven, sondern auch zur sozialen und zu ihren inneren „Welten“ – die Praxis der sprachlichen Kommunikation legt den normativen Grund der Gesellschaft.

Außerdem hebt Maja Soboleva die Frage hervor, wie es geschieht und sich zeigen lässt, dass Habermas die Begründung seiner These, laut der die Regeln des rationalen Diskurses die Bedingungen der Möglichkeit der Rationalität sind, von einer transzendentalphilosophischen Position aus durchführt. Diese Begründung ist Sobolevas Meinung nach nur durch Karl-Otto Apel (der gerade in dieser Frage ein Opponent von Habermas ist) gelungen: Habermas musste früher oder später eine Entscheidung zugunsten des transzendentalen Status seiner Philosophie treffen (in den 1970–1990-er Jahren hat sich Habermas vom Anspruch losgesagt, eine infallible Letztbegründung zu geben, und sich gerade darüber mit Apel auseinandergesetzt). Laut Soboleva

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