Добавил:
Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:

OjCgpD4Tuh

.pdf
Скачиваний:
2
Добавлен:
15.04.2023
Размер:
1.01 Mб
Скачать

die in den Metropolen erzeugten Waren, was dem Aufschwung der entsprechenden Produktionsbereiche in den abhängigen Ländern im Wege steht, führen einen Kapitalexport zur Schaffung von Produktionsstrukturen, die die einheimische Bevölkerung als billige Arbeitskräfte benutzen, verfrachten die Abfälle der eigenen Produktion (darunter auch lebensgefährliche) in die abhängigen Länder, eignen sich die wichtigste Ideen an, die die Intellektuellen dieser Länder formulieren (und wenig Möglichkeit haben, sie zu verwirklichen), fördern die Übersiedlung ihrer besten Vertreter in die Metropolländer usw. In der heutigen Epoche erscheint es wichtig, dass das Wissen und die Weltfinanzen in den Metropolländern konzentriert sind, was zum faktischen Monopol dieser Länder bezüglich jener Tätigkeiten führt, die ein Maximum des Mehrwerts bewirken, d.h. aller Tätigkeiten, die mit einem hohen Grad der Nutzung des Intellekts verbunden sind. Sinowjew erinnert damit an die Kapitalismuskritik des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts (bei Habermas ist dieser Aspekt vernachlässigt) (siehe: Sinowjew, 2004, S. 549, 584–585, 599–601; Sinowjew, 2007, S. 503–506).

Die sowjetische Gesellschaftsordnung, die sich als sozialistische bezeichnete, in Wirklichkeit jedoch kommunal war, hat im 20. Jahrhundert den Kapitalismus herausgefordert und die Kolonisierung der ganzen Menschheit und die endgültigen Herausbildung einer auf dem Kolonialismus gegründeten Weltordnung behindert. Deshalb war die Kollision beider Systeme in Gestalt des „kalten Krieges“ unvermeidlich geworden (Sinowjew, 2006 a, S. 256–258, 372– 374). Im Verlauf dieser Auseinandersetzung kam es im Westen zu einer Tendenz der Herausbildung einer „Übergesellschaft“, der alle nationalen kapitalistischen Gesellschaften allmählich beizutreten begannen. Diese „Übergesellschaft“ verfügte über einen internen (durch die objektive Logik der kapitalistischen Entwicklung bedingten) Imperativ, die sozialistischen Länder im Wettbewerb zu besiegen und in abhängige (kolonisierte) Länder umzuwandeln. Sinowjew zeigt, dass die Übergesellschaft eine qualitativ neue, in der Geschichte unbekannte Etappe der Entwicklung der Menschheit darstellt, dass im Westen keine Marktwirtschaft im reinen Zustand, keine nationale Staaten, kein ideologischer Pluralismus existieren, sondern alle diese Bereiche der gesellschaftlichen Praxis eine Transformation unter dem Einfluss der Übergesellschaft erfahren haben (Sinowjew, 2004,

S. 533–534, 544–545, 597–598; Sinowjew 2006 a, S. 370–372; Sinowjew, 2006 b, S. 326–329, 455–457). Wenn wir eine Anatomie dieser letzteren betrachten, dann lässt sich laut Sinowjew die Verflechtung von drei Hauptformen der Macht unterscheiden: die ökonomische Macht der größten transnationalen Korporationen und Weltfinanzinstitutionen, die politische Macht, die die Leiter der administrativen Subsysteme der führenden Staaten der westlichen Welt konzentrieren und die sich aufgrund der nicht verlautbarten Erstreckung der Einflusssphäre verteilen, sowie die Macht der Leiter der

166

Massenmedien, die im Bewusstsein der Mitglieder der Übergesellschaft ein kohärentes Weltverständnis produzieren und reproduzieren (Sinowjew, 2004, S. 548–550, 565–569,

584–585). In diesem Zusammenhang sind die Ideale der Selbstverwirklichung zu erwähnen, die den Menschen im Westen durch das Bildungssystem, die Kunst, die Unterhaltungsindustrie usw. suggeriert werden. Doch wenn Sinowjew einen dahinten verborgenen „Geldtotalitarismus“ sieht, d.h. eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Möglichkeiten zur realen Erreichung der Selbstverwirklichung von den dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln abhängig sind, dann bilden diese Ideale im Bewusstsein des Menschen in der Tat nur die motivierende Bereitschaft, die eigene soziale Rolle in den Instituten des ökonomischen Subsystems zu erfüllen – ohne jede Vorstellung davon, dass die Gesellschaft anders organisiert werden kann (Sinowjew, 2004, S. 343–345, 550–553).

Die führenden Leiter der globale Übergesellschaft üben die Verwaltung mit Hilfe persönlicher Kontakte aus: In der Kommunikation miteinander arbeiten sie gemeinsame strategische Entscheidungen aus und verwirklichen diese in ihren eigenen Bereichen – durch eine übereinstimmende Tätigkeit der von ihnen geleiteten Institutionen. Diese Annahme von Sinowjew ähnelt der in den populären Massenmedien in der letzten Zeit verbreiteten Theorie der „Weltverschwörung“ oder der „hinter den Kulissen stehenden Weltregierung“, hat damit aber nichts gemeinsam: Bei Sinowjew geht es darum, dass gerade die objektiven Voraussetzungen, von denen die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnende wissenschaftlich-technische Revolution und der als ein Kristallisationsfaktor für die Übergesellschaft gediente „Kalte Krieg“ die wichtigsten sind, die eine Tendenz zur Herausbildung derartiger gesellschaftlicher Strukturen erforderlich gemacht haben: Die Übergesellschaft konzentriert in sich kolossale personelle und finanzielle Mittel; es ist notwendig, diese Ressourcen professionell und zentralisiert zu verwalten, um ein einheitliches Projekt (früher war es ein Sieg im „kalten Krieg“) zu realisieren; und es ist schwierig, zu verstehen, wie sich das ohne diese informellen Konsultationen der Welteliten realisieren lässt (Sinowjew, 2004, S. 535–536, 571–574; Sinowjew, 2007, S. 242). Sinowjew schreibt aber in diesem Zusammenhang über einige Ähnlichkeiten zwischen diesen globalen und den spätfeudalen Ordnungen sowie den Vertretern dieser Eliten – den obersten Feudalherren des späten Mittelalters (Sinowjew, 2003 a,

S. 218–220).

Es ist für Sinowjew auch wichtig, zwischen zwei möglichen Verwaltungsmodellen zu unterscheiden: dem totalitären und dem liberalen. Bei dem totalitären Modell streben die Verwaltungsorgane danach, alle Prozesse zu kontrollieren und alles der Kontrolle Widerstehende abzuschaffen; bei dem

166

liberalen Modell, die Rahmenbedingungen für alle Tätigkeiten und Prozesse einzustellen und ihnen die Entscheidungsfreiheit zu lassen, unter der Voraussetzung, dass sich alle diese Prozesse in den als normal bestimmten Bahnen kanalisieren lassen. Das liberale Modell ist, im Vergleich zum totalitären, subtiler, aber beträchtlich effektiver, und die Verwaltungstätigkeit der Leiter der Übergesellschaft gehört gerade zu diesem Typ (Sinowjew, 2007, S. 78–80). Und wenn sich Sinowjew über die letzten Grundlagen dieser Tätigkeit äußert, kommt er zu einem Schluss, der fast in den Schlüssen von Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ steht: Dies ist das Streben nach Macht um ihrer selbst willen, nach unbegrenzter Herrschaft über die Menschheit, wie es heute durch deren Aufteilung in ein Zentrum und eine von ihm abhängige Peripherie erreichbar ist (Sinowjew, 2004, S. 593–595; Sinowjew, 2006 b, S. 492–493, 506–507). So warnt Sinowjew, dass die Macht der herrschenden Elite der globalen Übergesellschaft aufgrund ihrer in der letzten Zeit ausgeprägten Verwaltungskultur „mit der Zeit verspricht, zur despotischsten aller in der Geschichte bekannten Mächte zu werden“ (Sinowjew, 2004, S. 545)1.

Daraus können wir verstehen, was mit Russland infolge der Perestroika passierte, die Sinowjew als „Katastrojka“ bezeichnet (Sinowjew, 1991 – das ist das letzte ins Deutsche übersetzte Buch dieses Autors): Auf unsere Lebenswelt hat nicht nur das sowjetische politische Subsystem (das sich infolge der Perestroika stark abgeschwächt hat) einen kolonisierenden Einfluss, sondern auch das System der globalen Übergesellschaft im Ganzen ausgeübt2. Als

1

2

Vgl. Habermas, 1994, S. 398: „Es stellt sich die Frage, in welchem Maße sich insbesondere die Macht, die sich in den gesellschaftlichen Funktionssystemen, in den großen Organisationen und staatlichen Verwaltungen konzentriert, unauffällig im systemischen Unterbau des normativ geregelten Machtkreislauf einnistet – und wie wirksam der inoffizielle Kreislauf dieser nicht-legitimierten Macht in den rechtstaatlich regulierten Machtkreislauf eingreift“. Was Habermas also als eine Ausnahme und als ein Ergebnis der Korruption des demokratisches Rechtstaates sieht, gilt für Sinowjew als die Regel: Seiner Meinung nach gibt es in der Welt einen demokratischen Rechtsstaat in reiner Gestalt überhaupt nicht mehr – sein Wesen ist unter dem Einfluss der Übergesellschaft in etwas qualitativ Neues umgewandelt.

Die Gründe des Zerfalls des Kommunismus waren interne, und Sinowjew analysiert in seinem Buch „Die Krise des Kommunismus“ (Sinowjew, 1994, S. 385 ff., besonders S. 442 f.) ausführlich verschiedene, zu einer einheitlichen, zerstörerischen Strömung zusammengeflossene Krisentendenzen. Aber die Übergesellschaft hat diese Krise so kanalisiert, dass sie davon maximal profitierte. Das soll heißen, dass die ideologische Manipulation (deshalb meint Sinowjew, dass der „Kalte Krieg“ in der Weltgeschichte der erste durch eine symbolische Waffe gewonnene Krieg war) im Bewusstsein der sowjetischen Elite eine utopische Vorstellung hervorgerufen hat, dass sie sich in der Übergesellschaft als gleichberechtigter Partner integrieren kann. In den 1990-er Jahren sind die Vertreter der russischen bürokratischen (und kriminellen) Elite in der Tat zu Trägern des Willens der globalen Übergesellschaft geworden. Siehe auch: Sinowjew, 2004, S. 430–451; Sinowjew, 2006 a, S. 372–374.

166

Ergebnis dessen wurden die Verhältnisse der Kommunalität nicht zerstört, aber stark abgeschwächt; so entstanden „formal-organisierte Handlungsbereiche“ (Sinowjew bezeichnet sie als die „sachlichen Zellen der Gesellschaft“), d.h., kapitalistische Lebensordnungen. Sinowjew sieht aber in diesen Prozessen keineswegs einen Fortschritt, sondern eine „russische Tragödie“: Ein positives Moment der kommunalen Ordnungen bestehe vor allem darin, dass sie jeder den kommunalen Regeln folgenden Person einen ökonomischen und sozialen Schutz und folglich eine Absicherung in der Zukunft garantierte; des weiteren stellten sie die Anerkennung der betreffenden Personen sicher, im Sinne der Achtung von Seiten anderen Kollektivteilnehmer gegenüber hervorragenden Professionellen und jenen Beschäftigten, die ihre funktionellen Pflichten am besten erfüllt hatten (unter der Bedingung des Wohlwollens des Leiters); schließlich haben sie jeder Person eine sinnvolle Lebensorientierung gegeben – vor allem den uneigennützigen Dienst des großen Staates, der nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Anfang der alles zerstörenden Perestroika der zweite in der ganzen Welt war, und die Staatsführung deklarierte ihrerseits den Dienst an den Idealen der sozialen Gerechtigkeit im globalen Maßstab. Obwohl Sinowjew in seinem gesamten Schaffen seine Enttäuschung an diesen Idealen demonstriert, hat er verstanden, dass unter der Wirkung der einheitlichen Ideologie im Bewusstsein der Mehrheit der Teilnehmer der sowjetischen Gesellschaft nicht nur ein kohärentes Weltverständnis, sondern auch ein Glaube in die bessere Zukunft entstanden war, dank dessen die Menschen sich mit den schwierigen Lebensumständen und mit der ständigen kommunalen Konfliktsituation abgefunden und verschiedene materielle und geistige Werte ohne adäquate ökonomische Bemessung ihrer Arbeit geschaffen haben1.

Was den neuen russischen Kapitalismus betrifft, so behauptet Sinowjew, dass er infolge der schon eingespielten Prozesse in der globalen Übergesellschaft verdammt ist, in einer überschaubaren historischen Perspektive provinziell zu bleiben. Die Führer des russischen Kapitalismus, in Verbindung mit den ranghöchsten Bürokraten, werden sich immer am Kapitalexport in den westlichen Metropolländern orientieren, und das Hauptstreben ihres Lebens wird die Integration ihrer selbst oder ihres Nachwuchses in die westliche Übergesellschaft sein (Sinowjew, 2006 a, S. 386–387). Sinowjew bezeichnet die Gesellschaftsordnung des heutigen Russlands plastisch als „Hornhase“ (oder „Hornochse“) mit der Hervorhebung ihrer Absurdität: Sie ist eine nach den

1

In dem vorliegenden Absatz wurden einige Gedanken von Sinowjew über die

 

 

positive Seiten der sowjetischen kommunalen Gesellschaftsordnung dargelegt, siehe:

 

Sinowjew 2006 a; S. 76–79 (über die Kommunalität als die Form des für den Russen

 

gewohnten Kollektivismus), 104–107 (über die positive Rolle der Ideologie), 177–180

 

(über Kommunalität als die Form des Schutzes des Individuums von den negativen

 

gesellschaftlichen Prozessen), 204–206 (über die kommunistische Ideologie als

 

Lebensorientierung).

166

Vorschlägen der Vertreter der Übergesellschaft den russischen HerrscherReformern der 1990-er Jahre überstürzt konstruierte Hybride, die folgendes in sich einschließt: die kommunalen Beziehungen (die geschwächt werden, aber noch über die Mehrheit der Bevölkerung herrschen), reanimierte und geschminkte Ordnungen des vorrevolutionären Russlands (damit ist vor allem der Aufstieg der orthodoxen Kirche gemeint, deren Institutionen beginnen, die in der Gesellschaft fehlenden ideologischen Funktionen zu erfüllen) sowie Elemente des „geschäftliches Lebens“, die aber der Logik des provinziellen Kapitalismus untergeordnet sind. Vom Standpunkt der Stabilität und der dauerhaften Existenz kann diese Hybride lebensfähig sein, aber ihre Hauptfunktion besteht darin, Russland auf dem Niveau eines mittelentwickelten Landes zu halten, und der Stimme seiner Elite muss eine geringe Bedeutung beim Fällen der strategischen Entscheidungen des Leiters der Übergesellschaft zukommen (Sinowjew, 2006 a, S. 424–427, Sinowjew, 2006 b, S. 428–430). Sinowjew kommt zu dem Schluss, dass Russland im Ergebnis aller gesellschaftlichen Wandlungen auf den Weg der „abfallenden Evolution“ gelenkt wurde. Das bedeutet, dass der gesellschaftliche Fortschritt einen größeren Aufwand hat, der die positive Ergebnisse überwiegt – z.B. ist das wirtschaftliches Wachstum im 21. Jahrhundert um den Preis der Stabilisierung der Wirtschaft hauptsächlich mit Rohstoffen erkauft, und die Bereiche menschlicher Tätigkeiten, die mit dem Einsatz des Intellekts verbunden sind, haben dabei nur begrenzte Möglichkeiten zur Entwicklung, zu alledem profitiert wegen der ungerechten Güterverteilung nur ein begrenzter Teil der Bevölkerung von dieser ökonomischen Orientierung. Somit verläuft der Fortschritt in einer Linie, und die Gegentendenzen des Regresses, die gerade von diesem Fortschritt hervorgerufen wurden, verlaufen in vielen Linien. Die gesellschaftlichen Gesetze, die in diesem Modell der „abfallenden Evolution“ wirksam sind, sind den Gesetzen analog, die in der normalen Evolution wirken, mit einem prinzipiellen Unterschied: Sie befinden sich gleichsam „in der Widerspiegelung“; so ist z.B. die Tätigkeit zur Überwindung der gesellschaftlichen Probleme in eine Imitation der Tätigkeit umgewandelt (wie Sinowjew plastisch, „das Fallen in den Abgrund wird als Flug in den Himmel dargestellt“) (Sinowjew, 2006 a, S. 499–501 (hier: S. 426); Sinowjew, 2006 b, S. 439–440)1.

Am Ende des Abschnitts über Sinowjew sollen einige seiner Gedanken über die pathologischen Prozesse in der Lebenswelt der Menschheit ganz

1

Diese Idee über das Modell der „abfallenden Evolution“ ist mit der Charakteristik

 

 

der Ent-wicklung des neoliberalen Kapitalismus als paradox zu vergleichen: „Ein

 

Widerspruch ist paradox, wenn gerade durch die versuchte Verwirklichung einer solchen

 

(d.h. normativen, also – emanzipatorischen – S.Sh.) Absicht die Wahrscheinlichkeit

 

verringert ist, diese Absicht zu verwirklichen. In besonders ausgeprägten Fällen schafft

 

der Versuch der Verwirklichung einer Absicht Bedingungen, die der ursprünglichen

 

Absicht zuwiderlaufen“ (Honneth, Hartmann, 2010, S. 232).

166

generell dargestellt werden, die die Habermas’sche Diagnose ergänzen. Sinowjew widmet sein letztes Buch „Der Faktor des Verstehens“ (2006 b) der Darlegung der Grundlagen der „Intellektologie“, einer von ihm begründeten Wissenschaft, die es erlaubt, das in verschiedenen Bereichen isolierte und analytisch zergliederte Wissen über die Gesellschaft systematisch zu verstehen und daraus strenge logische Konsequenzen zu ziehen, die die reale Situation der Person im gesellschaftlichen Leben aufzeigen (Sinowjew, 2006 b, S. 9–10). Das Erkenntnisvermögen, das dies ermöglicht, bezeichnet Sinowjew als „Faktor des Verstehens“, daraus folgt der Titel des Buches (Sinowjew, 2006 b, S. 7–8). Um die Grundsätze der Intellektologie darzulegen, ist ein spezieller Beitrag erforderlich – sie sind Ergebnisse einer strengen logischen und begrifflichen Analyse. Im letzten Jahrzehnt hat die Menschheit diesen „Faktor des Verstehens“ entkräftet, als eine Folge der Verbreitung der elektronischen Informationsverarbeitung, die die kreativen und synthetischen Fähigkeiten der Menschen selbst mehr und mehr verdrängt. Daraus entsteht eine Situation, in der das systematische Wissen bereits nicht mehr von der Gesellschaft gefordert wird, sondern dem Los von Einzelgängern anheimgefallen ist, die wenig Möglichkeiten haben, es mitzuteilen (Sinowjew, 2006 b, S. 510–512, 514). Das Unvermögen zum systematischen Verstehen des gesellschaftlichen Lebens erklärt sich auch daraus, dass im entgegengesetzten Fall Personen in die Lage versetzt werden, das durch Massenmedien geprägte kohärente Weltverständnis in Zweifel zu ziehen (Sinowjew, 2006 b, S. 508–509, 511; Sinowjew, 2003 a, S. 341–342). Im Massenbewusstsein verbreitet sich die mythologische Vorstellung über Supergenies in den Labors, die den wissenschaftlichen Fortschritt vorantreiben, und eine Kehrseite dieser Vorstellung ist eine Unfähigkeit zum Verstehen sogar der Grundlagen des Wissens außerhalb enger Arbeitsbereiche, wo die Tätigkeit des Menschen sich vollzieht (Sinowjew, 2006 b, S. 517–518, 521). Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden mehr und mehr zu maschinenanalogen; Intimität, Liebe, Anhänglichkeit, Freundschaft werden in die Peripherie abgedrängt, so dominieren die kühlen Kalkulation und die Verstandesreflexion (Sinowjew, 2003 a, S. 347, 398–400). Das beschleunigende Tempo des heutigen Lebens beansprucht fast die gesamte Zeit, einschließlich der Freizeit: Unter dem Leistungsdruck des neoliberalen Kapitalismus verbringt der Mensch auch seine freie Zeit bei seiner Arbeit, und wenn er schließlich Freizeit bekommt, dann gerät er unter die Macht der Zerstreuungsindustrie, mit dem für sie konstitutiven Moment der Manipulation des Bewusstseins. Das bewirkt, dass alle beginnen, voraussagbar zu sein, weil in ihrem Verhalten die automatischen Reaktionen auf den begrenzten Umfang der für fast alle Menschen gleichen äußeren Reize überwiegen. Auf diese Weise führen entsprechende Prozesse dazu, dass der Bereich der Freiheit und der Verantwortung sich katastrophal verkürzt, was bedeutet, dass die Menschheit sich ihrer Zukunft selbst entledigt (Sinowjew, 2006 b, S. 513–514). Der kaum wahrnehmbare Protest, der sich im Gefühl der Unzufriedenheit seines Lebens

166

und der Depression äußert, wird mit Hilfe von Medikamenten unterdrückt; so haben die Menschen eine negative Aussicht, sich in einen an die staatenbildenden Insekten (z.B. die Ameisen) erinnernden Bioroboter zu verwandeln, dessen Tätigkeit vorprogrammiert ist (eine besondere Gefahr droht von der Wirkung der schon gemachten Erfahrungen durch Vererbung auf zukünftige Menschen) (Sinowjew, 2006 b, S. 515–516; Sinowjew, 2003 a, S. 360–361). Die Einstellung der Übergesellschaft zur Natur ist dadurch charakterisiert, dass alles ökologisch Belastende in die abhängigen Länder ausgeführt wird, und wenn wir diese Tendenz extrapolieren, dann sehen wir in der Zukunft unerträgliche Umweltbedingungen außerhalb der Grenzen der westlichen Übergesellschaft und eine künstliche Umwelt innerhalb dieser Grenzen, die z.B. die Gestalt abgekapselter Städte annimmt (d.h. von Städten, die sich in einer Kapsel befinden), und die Mitglieder der Übergesellschaft werden in dieser Umwelt in Schutzanzügen ausgehen (oder sich ausfliegen lassen) (Sinowjew, 2003 a, S. 341, 352). In den letzten Zeilen des Buches „Der Faktor des Verstehens“ (er hat es einen Monat vor seinem Tod abgeschlossen) zieht Sinowjew aus all diesen Tendenzen einen Schluss, der wegen seines Pessimismus überraschend klingt: Die Menschheit hat den Faktor des Verstehens in sich umgebracht und wird deshalb wegen ihrer Dummheit untergehen (Sinowjew, 2006 b, S. 521). In seiner Beschreibung des Freiheitsverlustes geht Sinowjew somit viel weiter, als Jürgen Habermas im Anschluss an Max Weber.

Die Auseinandersetzung mit den Ideen von Alexander Sinowjew kann die Theorie von Habermas somit mindestens in zweierlei Hinsichten bereichern: Erstens kann dessen Beschreibung der Wirkung des gesellschaftlichen Systems (mit dem Schwerpunkt des administrativen Subsystems) auf die russische Lebenswelt die auf die westlichen Erfahrungen konzentrierte Habermas’sche Analyse der „Mediatisierung“ und der „Kolonisierung“ der Lebenswelt unter dem Einfluss des westlichen Systems (mit dem Schwerpunkt des ökonomischen Subsystems) ergänzen, und die Kategorie des kommunalen Handelns kann die traditionelle Handlungstheorie vervollständigen, mit ihren Kategorien des zweckrationalen, strategischen, normenregulierten und dramaturgischen Handelns, deren Inhalte Habermas im Begriff des kommunikativen Handelns integriert hat. Zweitens öffnet Sinowjews kritische Theorie der Globalisierung eine Aussicht für die Untersuchung der Möglichkeiten der Gerechtigkeit im globalen Maßstab und erlaubt die führende, von Immanuel Kants Standpunkt ausgehende normative Kritik der Globalisierung (siehe z.B.: Hufnagel, Ervin, 2006) durch eine sozial-philosophische Reflexion zu untermauern (darauf werde ich noch zurückkommen).

Zum Schluss sei noch angemerkt, dass der Autor dieser Monographie weit davon entfernt ist, ein unkritischer Apologet der Theorien russischer Denker zu

166

werden. Was die Theorie des Karnevals von Michail Bachtin betrifft, so müssen wir sie von ihrer Begrenztheit auf den Bereich der Kulturphilosophie befreien und mit anderen philosophischen Theorien des Spiels vergleichen, z.B. mit der in den „Briefen über ästhetischen Erziehung“ von Friedrich Schiller dargelegten Philosophie des Spiels als die Grundlage der Versöhnung von Natur und Vernunft im Menschen, mit den anthropologischen Auffassungen von Johan Huizinga bezüglich des Menschen als „homo ludens“ usw., um in die Habermas’sche kritische Theorie Aspekte der Kreativität und des ästhetischen Schaffens des Menschen zu integrieren.

Was Pitirim Sorokin betrifft, so erfordert sein Hauptbegriff des soziokulturellen Systems eine tiefere dialektische Betrachtung, und daraus kann sich eine Überwindung von dessen Auffassung ergeben, dass ein soziokulturelles System der Moderne einzig und allein auf die Ideale der Leiblichkeit und der leiblichen Genüsse fixiert ist. Anstelle dieser Auffassung können wir sehen, dass im Zentrum des sensoriellen soziokulturellen Systems der Mensch als ein integrales Wesen steht, in der Einheit all seiner untrennbaren Seiten (leiblichen, willens-, vernunftbedingten, emotionalen usw.), und das Haup-tstreben der Moderne bildet das Streben nach Freiheit auch in all ihrer Integralität – dies ist eine zentrale Idee des jüngsten Buches von Axel Honneth (2011). Die von Sorokin dargelegten Prozesse kann man nicht als für die Moderne konstitutiv, sondern geradezu als pathologisch verstehen (solche Pathologien entstehen, wenn die Freiheit in der Gesellschaft sehr einseitig und begrenzt betrachtet wird). So nimmt sich der Autor des vorliegenden Artikels die Freiheit vorzuschlagen, orientiert an Sorokins Ansatz, ihn jedoch modifizierend, das moderne soziokulturelle System nicht als sensorielles, sondern als humanis-tisches zu bezeichnen. Sorokin erkennt übrigens auch an, dass es kein sozio-kulturelles System in reiner Gestalt gibt; folglich sind im modernen System auch neben dem sensoriellen auch ideationelle und idealistische Elemente anzu-treffen, so dass die Untersuchung des wechselseitigen Zusammenwirkens drei Elemente von Sorokins Analyse einen dynamischen Impuls erhalten kann.

Was Alexander Sinowjew betrifft, so besteht unsere Hauptkritik an ihm darin, dass die normative Dimension der moderne Gesellschaft seinem Verständnis fast völlig unzugänglich geblieben ist. Er meint, dass die Menschheit in der Kunst oder im Bereich des Denkvermögens Gegengewichte für die einseitigen kommunalen oder zweckrationalen sozialen Normen bildet, glaubt aber nicht, dass dieser Weg aussichtsreich ist – die die tiefe Denkarbeit leistenden Menschen werden allmählich in die Peripherie der gesellschaftlichen Ordnungen abgedrängt (Sinowjew, 2004, S. 560–564); wenn Sinowjew das in vielen Institutionen der moderne Gesellschaft schon verwirklichte Potential der praktische Vernunft sehen könnte, dann würde er vielleicht seine überpessimistischen Schlüsse korrigieren. Sinowjews Analyse konzentriert sich

166

ausschließlich auf die Prozesse im gesellschaftlichen System, so liegt der Gedanke nahe, sie durch Honneths Analyse der universellen Normen und Werte der modernen Institutionen als Bekundungen der ihnen immanenten praktischen Vernunft zu ergänzen.

Wenn wir umgekehrt fragen, unter welchen Aspekten für Honneth selbst die Theorie von Sinowjew interessant sein könnte, dann lassen sich mindestens zwei Punkte nennen. Sinowjews Analyse der heutigen sozialen Pathologien ist imstande, den Optimismus zu mildern, der aus dem unkritisch angewendeten Ansatz von Honneth folgen kann: Das Vorhandensein des Potentials der praktischen Vernunft in den modernen Institutionen sagt noch nichts darüber aus, ob dieses Potential sich in der Realität selektiv oder vollständig entwickelt. Gerade darin kann eine Erklärung der von Sinowjew beschriebenen Pathologien liegen: Das Leben in der institutionellen Realität, die allmählich mehr und mehr vernünftig wird, genießen heute nur die Mitglieder der westlichen Übergesellschaft (und auch nur ein Teil ihrer Vertreter), und was andere Völker betrifft, dann kommen ihnen oft nur verschiedenartige (z.B. ökologische) Kosten des Fortschrittes der Übergesellschaft in verschiedenen Bereichen zu. So können wir die Forderung der praktischen Vernunft unter den Bedingungen der Globalisierung wie folgt formulieren: Die gesamte Menschheit hat ein Recht auf die ungehinderte Entwicklung des in den sozialen Institutionen der Moderne enthaltenen Potentials der praktischen Vernunft (was die freie Entwicklung der Vernunft in jedem Menschen voraussetzt und auch Folgen hat)1. Das ist keineswegs eine egalitäre Forderung: Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung verschiedener Regionen (infolge der historischen oder anderer Gründe) kann bestehen bleiben, aber sie soll keineswegs eine Ungerechtigkeit bedeuten (sie kann z.B. in einen Wettbewerb verschiedener Länder in verschiedenen Bereichen transformiert werden).

Und es gibt einen zweiten Aspekt, unter dem Sinowjews Analyse für moderne kritische Theoretiker interessant ist: Es sei daran erinnert, dass der Mensch nicht nur ein vernunftbegabtes, sondern auch ein unvernünftiges und zur mühsamen Überwindung seiner Dummheit berufenes Wesen ist. Die Liste der Hindernisse der Entwicklung der Gattung Mensch zur Mündigkeit, die in Kants weltberühmten Werk über die Aufklärung enthalten ist (die Faulheit, die Angst vor einer selbständigen Anwendung der eigener Vernunft, das Interesse der regierenden Eliten, ihre Untertanen auf dem Niveau der Unmündigkeit zu halten usw.), kann Sinowjew mit einer Form der Pathologien vervollständigen, die sich aus der Verdrängung des Menschen aus dem Bereich der

1

Diese Formulierung kann als den Beitrag zur Diskussion über die normativen

 

 

Orientierun-gen der Kritik der Ungerechtigkeit im Globalisierungsprozess verstanden

 

werden, die Rainer Forst in dem Artikel (Forst, 2007 c, S. 352–356) und auch in dem

 

Artikel (Forst, 2007 d, S. 374–375) initiiert hat.

166

Informationsbearbeitung ergibt – wenn es möglich ist, diese Aufgabe den Computern zu überlassen, wozu braucht man dann überhaupt noch den Menschen (Sinowjew, 2003 a, S. 294–295)? Es ist eine für die Frankfurter Schule klassische Frage nach den Grenzen der instrumentellen Vernunft, die sich bis zu einer existentiellen Schärfe zugespitzt hat. Und zur Beantwortung dieser Frage kann das Nachdenken über die Verschiedenheit der mechanistischen und der organischen Logik des Begreifens des Seins beitragen

– fast die gesamte russische philosophische Tradition beschäftigte sich damit, das Projekt dieser organischen Logik zu bearbeiten, d.h. sie strebte danach, die Welt, den Menschen und die Gesellschaft nicht als mechanistische Systeme, sondern als integrale und nicht in ihre Bestandteile aufgeteilte Organismen zu begreifen. Gerade im Zusammenhang mit dieser existentiellen Frage über die Möglichkeit der Erhaltung der Menschheit als solcher in der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation (eine Alternative dazu – ihre Verdrängung von der Erde durch Bioroboter oder „Cyberwesen“) kann die russische Philosophie für eine neue Begründung der kritischen Theorie herangezogen werden.

In diesem Kapitel wurde also eine kritische Kontextualisierung der Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns versucht, einschließlich des Vergleichs einiger Ideen von Axel Honneth und Rainer Forst mit den Ideen russischer Denker. Dabei wurde eine Ergänzung von Habermas’ Analyse in drei Richtungen vorgeschlagen: eine formal-pragmatische Untersuchung der Sprache, eine Untersuchung der Ergebnisse und Perspektiven der gesellschaftlichen Rationalisierung und eine Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem System und der Lebenswelt in der Moderne, und aufgrund der zuletzt genannten Analyse, unter Einbeziehung der Ideen von Alexander Sinowjew, die den Ideen von Axel Honneth und Rainer Forst gegenübergestellt wurden, darüber hinaus Ansätze einer kritischen Theorie der Globalisierung skizziert.

Die vorliegende Analyse will zum Dialog der philosophischen Kulturen beitragen – konkret: zur Aktualisierung des methodologischen Ansatzes der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas durch Einbeziehung wichtiger Gedanken russischer Philosophen, die im Westen früher bekannt waren, später jedoch in Vergessenheit gerieten (wie Sorokin), oder (wie die kritische Theorie der Globalisierung von Sinowjew) generell noch unbekannt sind. Auf diesem Weg kann hoffentlich ein umfassendes und tieferes Verständnis der modernen Situation in der Gesellschaft erreicht werden.

166

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]