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Form. Dieses Beispiel lässt sich nur so interpretieren, dass es im Russischen mehr Relikte eines mythologischen Bewusstseins gibt als im Deutschen.

Das nächste Beispiel ist aber nicht so banal:

(1) «Меня нет» bedeutet buchstäblich auf Deutsch: „Es gibt mir nicht”.

Diese Äußerung ist deshalb paradox, weil hier nicht der Sprecher direkt verneint wird, sondern irgendein grammatikalisches Subjekt, das sich in Bezug auf die natürlichen und subjektiven Welten in einer unbestimmten Lage befindet.

Durch Modifizierung dieses Beispiels können wir eine in der Diskursethik zentrale Begründung des „performativen Selbstwiderspruches“ in Frage stellen – vielleicht nicht die Existenz dieses Widerspruches, sondern die Form der Begründung in den Werken von J. Habermas und K.-O. Apel. Durch eine Demonstration dieses Widerspruchs in der Position des „Skeptikers“ wollte Habermas bekanntlich beweisen, dass es Normen der gegenseitigen Verständigung zwischen den Teilnehmern jedes Gespräches gibt, die einen quasi-transzen-dentalen Charakter haben, weil der Sprecher sich auf diese Normen bei der Erzeugung aller seiner Aussagen orientiert; und wenn er von diesen Normen abweicht, so gerät er in einen solchen Widerspruch. Das Beispiel der Aussage: „Ich bezweifle, dass ich existiere“ war für Habermas eines der wichtigsten für die Illustration des performativen Widerspruchs: Wenn der Sprecher in der Wirklichkeit nicht existiert, dann kann er überhaupt nichts tun, also auch nichts bezweifeln (Habermas, 1991 b, S. 90–92).

Aber kann man in der russischen Sprache eine solche Aussage so formulieren, dass die beiden Teile, der performative und der propositionale, nicht im Widerspruch stehen:

(1’) Мне хочется сказать, что меня нет. Auf Deutsch wörtlich: Es will mir sagen, dass es mich nicht gibt.

Das, was in der deutschen Sprache als eine künstliche und unverständliche Konstruktion erscheint, ist in der russischen Sprache absolut natürlich und trägt in sich keinen offenen Widerspruch zwischen dem implizit gemeinten Wissen und dem propositionellen Gehalt der Aussage. Aus dieser Aussage folgt, dass der Sprecher mit sich eine derartige Beziehung eingeht, dass er die Unbestimmtheit seines Existenzstatus unterstellt, somit ist der propositionale Gehalt seiner Aussagen auch unbestimmt. Ein solches Subjekt kann auch in einen Diskurs eintreten, aber seine kommunikative Rolle wird von den drei von Habermas beschriebenen Rollen des Sprechers, des Hörers und des Unbeteiligten nicht erschöpft; hier muss man eine vierte Rolle des Spielers

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einführen, wenn wir einer Intuition von Gadamer in der Diskussion mit Habermas folgen (Gadamer, 1980, S. 317), oder des hinter einer Maske verborgenen Teilnehmers des Karnevals, wenn wir hier Überlegungen von Michail Bachtin einbeziehen1. Die Aussage, die der Erfahrung des Karnevals entsprechen kann, klingt so:

(1’’) «Мне хочется сказать, что меня здесь нет, а есть N». Auf Deutsch: „Es will mir sagen, dass es mich hier nicht gibt, es gibt N“, wobei mit N die durch die Maske und das Verhalten dargestellte eingebildete Figur gemeint ist.

Die Wahrnehmung der Realität des hinter der Maske verborgenen Subjekts wird dabei von üblichen „seriösen“ unterschieden, wenn Personen immer als Träger ihrer sozialen Rollen einem bestimmten sozialen Status entsprechend auftreten und sich einer solchen Bürde nicht entledigen können. Wie paradox das auch klingen mag, aber in der Praxis des Karnevals kann eine Illustration des „Urzustands“ sehen, in dessen Rahmen John Rawls vorgeschlagen hat, Gerechtigkeitsnormen zu begründen, und auf die Frage von Habermas: „Wie kann Rawls seine Adressaten überhaupt dazu motivieren, sich in den Urzustand hineinzuversetzen?“ (Habermas, 1991 a, S. 56), können wir mit Bachtin eine unerwartete Antwort geben: „Wenn diese Parteien sich in der Situation des Karnevals befinden“. Gerade in diesem Kontext des gemeinsamen Spiels können sich neue Quellen der sinnlichen und sprachlichen Erfahrung der Welt öffnen. Eine Kehrseite dieser Praxis ist, das sie sich ohne Ernst vollzieht, und deshalb wird es schwierig zu verstehen, wie man die Gerechtigkeitsnormen, die in diesem Zustand ausgearbeitet werden, in die „seriöse“ soziale Wirklichkeit übertragen kann. In dieser „seriösen Realität“ kann aber eine Norm über die Notwendigkeit existieren, diese Realität in einer bestimmten Zeit aufzugeben, was an dem mythologischen Bewusstsein bekannte Praktiken der Rückkehr der „sakralen“ Zeit erinnert (besonders stark ist von dieser Erfahrung in unserer heutigen Kultur das Neujahrsfest geprägt)2.

Ein Exkurs: Es ist evident, dass die Praxis des Karnevals dem von Rawls beschriebenen Urzustand (als einem Ausgangspunkt für Diskussionen zum Problem der Gerechtigkeit) nicht direkt gleichgesetzt werden kann – hier sind noch seriöse komparative Untersuchungen erforderlich. Diese Frage von Habermas kann außerdem einen rhetorischen Charakter haben und überhaupt

1

2

Das Werk von Bachtin über den Karneval (Bachtin, 1995) ist sowohl Habermas als auch Honneth bekannt und wird von ihnen hoch geschätzt: Habermas, 1990, S. 17–18; Hon-neth, 2007, S. 181.

„Künstlerisches Hauptziel (des Karnevals) ist … die Zeit auf der materialen-leiblichen Ebene zu erneuern, sie zu verkörperlichen und irdisch zu machen, sie in die gute und heitere Zeit zu verwandeln“ (Bachtin, 1995, S. 279).

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keine Antwort voraussetzen. Hier lassen sich trotzdem einige Aspekte des Karnevals für eine solche komparative Untersuchung darlegen. Der Karneval lässt sich nicht völlig auf die Umkehrung der sozialen Wirklichkeit und auf das Verspotten der sozialen Hierarchie reduzieren – seine Funktion liegt tiefer: Die Sprache der volkstümlich-komischen Motive wischt alle Pseudoseriosität und das verlogene historische Pathos weg und bereitet den Boden für eine neue Seriosität und ein neues historisches Pathos (Bachtin, 1995, S. 493–494). Die Erfahrung des Volksorganismus, dessen untrennbaren Teiles jedes Individuums sich erfährt, ist eigentlich ein fundamentales Ziel des Karnevals (darüber siehe weiter unten). Die Sprache, die der Karneval benutzt, verwirklicht in sich, im Vergleich zur offiziellen Kultur, eine andere Erfahrung der Zeit: Anstelle der Auflösung der Gegenwart in der unveränderlichen Ewigkeit, wie in der christlichen Mythologie, oder der Verwandlung der Gegenwart in ein verschwundenes Moment, das unumkehrbar in der Vergangenheit fließt, wie das in der üblichen sozialen Wirklichkeit gemeint ist, wird die Fülle der Gegenwart hervorgehoben, einer Gegenwart, die auf keinen Anderen zurückgeführt werden kann. Es stellt sich heraus, dass der Karneval die ununterbrochene, permanente Gegenwart ist (Bachtin, 1995, S. 279, 291, 513– 515); davon kann gerade ein von Rawls beschriebener Effekt des „Schleiers des Unwissens” (Vgl.: Maus, 2006, S. 76–78) entstehen, der erlaubt, in Unkenntnis über die Verteilung der sozialen Rollen zwischen den Karnevalsteilnehmern in der seriösen sozialen Realität nach dem Karneval das Karnevalspiel weiterzuführen (Bachtin, 1995, S. 306–307). Die Karnevalserfahrung führt zum Schluss zum Einsehen in der Ambivalenz alles Gewordenen und zur Einstellung der Offenheit zu ihrer möglichen Erneuerung, wobei die Erfahrung dieser Erneuerung durch das Erlebnis der Lebensund Todesrätsel entsteht (Bachtin, 1995, S. 291, 369–370, 383, 480–481); der „Urzustand“ ist bei Rawls auch dazu bestimmt, einen Ausgangspunkt für die Inhaltserneuerung der normativen Grundlagen sozialer Institutionen anzubieten (Maus, 2006, S. 73–75). Somit können Personen, die die Karnevalserfahrung tief erlebt haben, die Fähigkeit in sich ausbilden, sich in einen Urzustand hineinzuversetzen, wenn diese Erfahrung für das Ziel des Schaffens der Gerechtigkeitstheorie aktualisiert wird, obwohl diese Kompetenz direkt aus der Karnevalspraxis nicht herausgeführt werden kann – dazu ist die Teilnahme der Personen in anderen normativen Praktiken der Moderne in aller ihrer Fülle erforderlich.

Die Rolle des Spielers ist von der Rolle des selbstdarstellenden Subjekts in der ästhetisch-expressiven Form der Rationalität, wie sie Habermas beschreibt, in folgendem unterschieden: Nach Habermas ist hier die Wahrhaftigkeit, d.h. die Entsprechung zwischen dem Gemeinten und dem Gesagten, erforderlich (Habermas, 1987, Bd. 1, S. 407–408), während im

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Karneval alles umgekehrt ist: Die Inkonsistenz zwischen diesen Aspekten ist sowohl dem Spieler als auch allen anderen Teilnehmern einer solchen Praxis bewusst, weil alle aufgehört haben, sich selbst zu sein und sich in gespielte Karnevalspersonen verwandelt haben. In dieser Inkonsistenz ist jedoch ein demokratisches Potential enthalten: Diese Praxis erlaubt es, den sozialen Status und mit ihm verbundene Verpflichtungen beiseitezulegen.

In der sozialen Realität wird der Mensch oft zu einem „zynischen Akteur“, in Erving Goffmanns Terminologie, d.h. er distanziert sich bewusst von seiner eigenen Subjektivität und erweckt beim Publikum einen bestimmten „Darstellungseffekt“. Dabei ist es nicht nur so, dass er nicht das von ihm Gemeinte sagt, vielmehr wird die Unaufrichtigkeit zum Normalzustand der gesellschaftlichen Beziehungen1, was die Normen der kommunikativen Vernunft in bloße Sollensforderungen verwandelt. Der Karneval unterscheidet sich von solchen sozialen Praktiken dadurch, dass alle seine Teilnehmer aufrichtige Akteure sind und die Heuchelei durch die Logik des Spiels ausgeschlossen ist. Also wird durch den Karneval die Entwicklung nicht nur der ästhetisch-expressiven, sondern auch der moralisch-praktischen Form der Rationalität ermöglicht. Wie Michail Bachtin gezeigt hat, bildet sich im Prozess des Karnevals ein idealer Volksorganismus heraus, der den empirischen Generationswechsel aufhebt, in dessen Totalität es keinen Platz für Angst gibt, weil die Angst nur in abgestorbene Zellen vordringen kann, die die Beziehung zum Ganzen verlorenen haben (Bachtin, 1995, S. 296–297, 382–383, 358–359; siehe dazu auch: Soboleva, 2010, S. 132–134). Somit vollziehen sich im Karneval das gemeinsame Durchdringen und die gemeinsame Entwicklung zugleich als zwei Rationalitätsformen, und so kann man zum Guten durch die Schönheit kommen, wie Friedrich Schiller in seinen „Briefen über ästhetische Erziehung“ schreibt. Die Praxis des Karnevals kann auch eine Form sein, die eine Vorwegnahme der Idee der unbegrenzten kommunikativen Gemeinschaft enthält.

Somit kann die von Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ durchgeführte Analyse der Sprache durch die Einbeziehung von Erfahrungen der russischen Sprache ergänzt werden. Dadurch eröffnet sich eine Möglichkeit, die Geschlossenheit und die übermäßige Formalisierung der Habermasschen Theorie aufzuheben, weshalb er von einigen heutigen jungen Denkern kritisiert wird (Celicates und Pollmann, 2006, S. 101, mit Verweis auf: Honneth und Joas (Hrsg.), 2002). Als Ergebnis können neue und unerwartete

1

Goffmann 1991, S. 19–23. (Bespiele der Praxis der bewussten Täuschung des

 

 

 

Publikums auf S. 20; andere Form des Zynismus: „… der Zynismus kann als Mittel zur

 

Isolierung des inneren Selbst gegen den Kontakt mit dem Publikum verwendet werden“ –

 

S.

22),

 

S. 42–43, S. 46–47 (über die „Segregation des Publikums“), S. 49, S. 62–65 (über die

 

Mystifikation) usw.

 

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Beziehungen zwischen den verschiedenen Dimensionen der kommunikativen Vernunft hergestellt werden, und das dramaturgische Handeln kann zu praktischen Diskursen führen.

(2) Ein zweites hier behandeltes Problem ist eine Erklärung des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses. Die Bedeutung dieses Prozesses liegt darin, dass die religiös-metaphysischen Weltbilder in einzelne inhaltliche Dimensionen zerfallen, die von den Beziehungen zwischen dem handelnden Subjekt und drei Welten bestimmt sind: der kognitiv-instrumentellen (der Beziehung zur objektiven Welt der Natur), der moralisch-praktischen (der Beziehung zur Gesellschaft) und der ästhetisch-expressiven (der Beziehung zur inneren Welt). Auf die Ausarbeitung dieser inhaltlichen Dimensionen der Vernunft spezialisieren sich jetzt die „Subkulturen der Experten“: die Wissenschaft, die Moral und das Recht, die Kunst und die Pädagogik (Habermas, 1987, Bd. 1,

S. 340–344, Bd. 2, S. 481–484).

Wenn wir diesen Prozess aus der Perspektive der einzelnen Person betrachten, dann sehen wir, dass sie die Gewissheit über weltanschauliche Orientierungen verliert, die die religiös-metaphysischen Weltbilder einst vermittelt haben, und die Übereinstimmung der ausdifferenzierenden Vernunftmodi wird jetzt zu einer Aufgabe, die den schwachen Kräften der Vernunft des Einzelnen überlassen bleibt. Daraus folgt einerseits, dass die Personen sich von den traditionellen sozialen Zusammenhängen emanzipieren und sie an sich selbst den Einfluss des Prozesses des „unnachsichtiges Zwanges zur Individuierung“ (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 95) erfahren. Andererseits besteht die Gefahr, dass das Individuum nicht imstande sein wird, eine solche Synthese der Vernunftmodi herbeizuführen – dann wird die Weltanschauung des Individuums fragmentarisch, und es stellt sich heraus, dass es für eine autonome Lebensführung nicht über genügend innere Kräfte verfügt oder die äußeren Umstände ungünstig sind. In diesem Fall beginnen sich, wie schon Axel Honneth gezeigt hat, im Bewusstsein der Personen Pathologien zu bilden, die sich insbesondere in einem in den letzten Jahrzehnten stark verbreiteten Depressionsgefühl ausdrücken (Honneth, 2010, S. 219–221).

Was Jürgen Habermas betrifft, so sieht er als eines der Ergebnisse der gesellschaftlichen Rationalisierung die Entstehung des autonom funktionierenden, aus ökonomischen und administrativen Subsystemen bestehenden gesellschaftlichen Systems. Dieser Prozess setzt eine Absonderung der kognitivinstrumen-tellen Form der kommunikativen Vernunft voraus. Innerhalb des Systems bilden sich „formal organisierte Sozialbeziehungen“, die durch positives Recht erzeugt werden, innerhalb derer die Personen den Zweckrationalitätsnormen folgen und so die Forderungen der Institutionen des

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Systems erfüllen (Habermas, 1987,

Bd. 2; S. 254–257, 458–462). Darauf werde ich im dritten Abschnitt dieses Artikels zurückkommen.

Wenn wir zu den Prozessen der Individuierung zurückkehren, dann setzen diese nicht nur die Fähigkeit zur selbständigen Zielsetzung voraus (laut der Systemtheorie der Gesellschaft üben die Systemimperative der Selbsterhaltung und der Komplexitätssteigerung auf sie einen indirekten Einfluss aus), sondern auch die Orientierung auf universelle Prinzipien der postkonventionellen Moral (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 260–261, 266–267, 466–467). Hier lässt sich eine logische Lücke feststellen: Aus der ersten Voraussetzung folgt nicht die zweite. Man kann vermuten, dass Habermas stillschweigend unterstellt, dass dann, wenn die konventionelle Form des moralischen Bewusstseins überwunden ist, die Person unvermeidlich das postkonventionelle Niveau erreicht. Die empirischen Untersuchungen von Lawrence Kohlberg haben aber, wie bereits ausgeführt wurde, gezeigt, dass die Mehrheit der Versuchspersonen in seinen Experimenten ein Übergangsstadium „4,5“ in ihrer moralischer Entwicklung demonstrieren: Sie sind gegenüber jeder beliebigen Norm der konventionellen Moral kritisch eingestellt, aber entweder verstehen sie den Inhalt der universellen Moralprinzipien nicht, oder sie sind nicht bereit, diesen Prinzipien zu folgen, insbesondere dann, wenn es ihren eigenen Interessen widerspricht (Habermas, 1991b, S 197–199). Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur pessimistischen Unterstellung, dass gerade diese Übergangsform des moralischen Bewusstseins sich unter dem Einfluss der Systemmedien des Geldes und der Macht herausbildet und den Systemimperativen am besten entspricht. Habermas vollzieht diesen Schritt nicht, wie sich vermuten lässt, um von seiner und K.-O. Apels Idee der Verwirklichung in der Realität der „unbegrenzten kommunikativen Gemeinschaft“ im Prozess der allseitigen Entwicklung der kommunikativen Vernunft nicht enttäuscht zu werden. Diese Perspektive ist aber eher eine theoretisches Konstrukt geblieben, die in sich einen inneren Widerspruch enthält, worauf schon in den 1980-er Jahren K.-O. Apel hingewiesen hat (Apel, 1998, S. 662–663)1. Einige Philosophen meinen in

1

25 Jahre später hat Apel auf eine soziale Institution verwiesen, die eine Verwirklichung

 

 

der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft unter den heutigen sozialen Bedin-

 

gungen sein kann: die Gemeinschaft von Intellektuellen, die gemeinsam „Tausende

 

Gespräche“ über moralisch-praktische Probleme führen. „Die Quasi-Institution der

 

“tausend Gespräche und Konferenzen” … umfasst als Mitglieder potentiell Delegierte

 

aller Nationen und Vertreter aller professionellen Kompetenzen, Künstler, Literaten und

 

Philosophen, Wissenschaftler und Techniker und natürlich auch Vertreter der Wirtschaft

 

und der Politik. Dementsprechend reichen die Diskussionen von explorativen

 

Erkundungen über theoretische und praktische Diskurse bis zu politisch wirksamen

 

Resolutionen, Deklarationen und Verträgen“ (Apel, 2001, S. 86–88, hier: S. 86). So hat

 

Apel die Begrenztheit von Ch. S. Pierces Ansatz, der die ideale Gemeinschaft der

 

Interpretatoren nur mit der Gemeinschaft der Wissenschaftler verbunden hat, über-

 

wunden; in dem vorliegenden Artikel folgen weitere Vorschläge aus Apels Intuition und

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diesem Zusammenhang, dass Habermas bei der Wahl der Begriffstrategie für die Beschreibung der gesellschaftlichen Rationalisierung in eine Sackgasse geraten sei (Celicates und Pollmann, 2006, S. 105–106).

Als ein Vorschlag zum Herausfinden aus dieser Sackgasse könnten die Ideen eines der bedeutendsten russischen Soziologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienen – Pitirim Sorokin. Ihn hatte man entsprechend einer Entscheidung Lenins 1922 mit dem sogenannten „Philosophenschiff“ aus Sowjetrussland ausgewiesen, seit 1929 war er als Professor der Soziologie an der Harvard Universität tätig, wo er den Soziologielehrstuhl einrichtete; der berühmte Tolkott Parsons war dort sein Schüler und Assistent. In seinem Hauptwerk „Soziale und kulturelle Dynamik“ begründet Sorokin nüchtern, dass es infolge des Zerfalls der religiös-metaphysischen Traditionen zu einer Tendenz der Orientierung fast aller Teilnehmer der Gesellschaft auf die materiellen Werte, d.h. auf den menschlichen Leib und die Befriedigung von dessen Bedürfnissen einschließlich leiblicher und sinnlicher Genüsse kommt. Unter diesen Bedingungen gibt es wenig Gründe, im Bewusstsein der Individuen die Herausbildung universeller moralischer Normen zu erwarten: Leibliche Genüsse sind entsprechend ihrer Natur vorübergehende Erscheinungen, und fast alle streben danach, „einen Moment zu fangen“, ohne daran zu denken, wie es weitergehen wird (Sorokin, 1970, P. 28).

Habermas führt in der TKH ähnliche Gedanken von Max Weber an: Die zweckrationale Tätigkeit innerhalb der Institutionen des gesellschaftlichen Systems führt in der Gesellschaft zum Dominieren des Typs „Fachmenschen ohne Geist“, und ein anderer Typ des „Genussmenschen ohne Herz“ ergänzt ihn (Habermas, 1987, Bd. 1, S. 338; Bd. 2, S. 481). Der Mensch kann auch zu beiden Typen gehören, weil die professionelle Tätigkeit und die Genüsse sich abwechseln; dann können wir eine Beständigkeit dieser Rhythmen feststellen, aber auf dieser Grundlage noch nicht die Herausbildung beständiger moralischer Prinzipien im Bewusstsein des Einzelnen erwarten. Und gerade durch diese Unfähigkeit, sich über das Streben nach leiblichen Genüssen zu erheben, und nicht nur durch den Einfluss des Rechts als einem der institutionellen Mechanismen der Systemregulierung auf die kommunikativen Prozesse in der Lebenswelt (das Recht wird hier in seinem privaten Aspekt verstanden, d.h. es setzt voraus, dass die Individuen nur die Adressaten und nicht die Autoren der Normen sind)1, können wir die Unfähigkeit vieler heutiger Menschen erklären, ständige kommunikative Zusammenhänge untereinander zu bilden, weil das voraussetzt, eine langfristige Verantwortung für das eigene Leben und das Leben eines anderen zu übernehmen.

zeigen später eine weitere Gemeinschaft der potentiellen Teilnehmer dieser „tausend Gespräche“, die in Apels Liste aus unbekannten Gründen fehlt.

1 Diese Erklärung schlägt Honneth in seinem jüngsten Buch (2011) vor.

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Wenn wir versuchen, das Wesentliche aus der Konzeption von Sorokin in einigen Absätzen wiederzugeben, dann ergibt sich Folgendes: Die Gesellschaft und die Kultur sind untrennbare Teile des gesamten „soziokulturellen Systems“, das stets in ein fundamentales Prinzip (das Sorokin als eine „soziokulturelle Dominante“ bezeichnet) integriert ist (Sorokin, 1970, P. 14, 17–19, 24–29, 37–39, 53–66)1. Dieses Prinzip ist der Ausdruck des in einer bestimmten Epoche herrschenden fundamentalen Verständnisses des Seins. Es gibt drei mögliche soziokulturelle Systeme, die sich jeweils voneinander nach dem Prinzip seiner Integration unterscheiden: das ideationelle (ideational), idealistische und sensorielle (sensate) (Sorokin, 1970, P. 24–29, 37–39; Sorokin, 1950, S. 13–16). Beim ideationellen System steht Gott im Zentrum, und alle Tätigkeit ist darauf orientiert, Beziehungen mit Gott oder der außerhalb unserer sinnlich wahrnehmbaren Realität sich befindenden Welt herzustellen (diese Welt des Jenseits ist sogar eine echte Realität, davon geht man im Rahmen dieses soziokulturellen Systems aus). Somit ist die Hauptform der Tätigkeit die religiöse, die Wissenschaft beschäftigt sich vor allem mit der Interpretation von Glaubenswahrheiten, die ökonomische Tätigkeit wird als eine nur wegen der Verderbtheit der Menschen durch die Sünde notwendige und deswegen als der religiösen Tätigkeit untergeordnete wahrgenommen. Die politische Ordnung ist entweder die Theokratie oder die Monarchie, an der Spitze der sozialen Hierarchie steht die Geistlichkeit.

Im idealistischen soziokulturellen System stehen im Mittelpunkt Gott und die sinnlich wahrnehmbare Welt in ihrer harmonischen Synthese: Gott (oder das geistige Prinzip des Seins) ist eine echte Grundlage der materiellen Welt, die Natur ist dennoch auch schön, weil sie eine Schöpfung Gottes oder in ihr die geistige Substanz vorhanden ist, und diese Weltanschauung kann in ihrer weiteren Entwicklung zu einem pantheistischen Verständnis des Seins führen. Die Individuen haben eine tiefe und breite ästhetische Erfahrung der Welt und ihres eigenen Körpers, weshalb die Kunst zu einer Hauptform der Tätigkeit wird, in der Religion tritt das ästhetische Moment in den Vordergrund, die Wissenschaft beginnt schon, sich von der Religion zu trennen, aber es gibt noch

1

Siehe auch: „Die Gesamtheit der immateriellen Sinngehalte, Werte und Normen,

 

 

die der Menschheit bekannt, aber noch nicht durch materielle Träger objektiviert sind,

 

ferner die Gesamtheit der bereits objektivierten Sinngehalte, Werte und Normen mit allen

 

ihren Trägern, und schließlich die Gesamtheit der geistbegabten Einzelmenschen und

 

Gruppen in der Vergangenheit und Gegenwart machen zusammen die der physikalischen

 

und biologischen Welt übergelagerte gesellschaftlich-kulturelle Welt (sociocultural

 

world) aus“ (Sorokin, 1953, S. 215). Weiter folgt die Analyse der „soziokulturellen

 

Phänomene“

 

(S. 219–224). Ferner (auf S. 226) erläutert Sorokin den Begriff der „Hauptprämissen oder

 

letzten Prinzipien“ der kulturellen Supersystems. Auf S. 231–232 wird die Situation der

 

pluralistischen Koexistenz der Fragmente verschiedener kultureller Supersysteme

 

vergleichend beschrieben. Siehe auch: Sorokin, 1950, S. 10–22, besonders S. 12–13.

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keine objektivierende Distanzierung von der Natur – sie wird als ein einheitliches Ganzes wahrgenommen; die ökonomische Tätigkeit ist vom Verständnis geleitet, dass ihre verschiedene Formen Beiträge zum allgemeinen Guten sind, so wird diese Tätigkeit gleichberechtigt mit anderen Formen der Tätigkeit, politische Regierungsformen können sowohl monarchisch als auch republikanisch sein.

Beim sensoriellen soziokulturellen System wird davon ausgegangen, dass die materielle (d.h. den menschlichen Sinnesorganen geöffnete) Welt gerade die letzte Realität ist, und es außerhalb ihrer Grenzen entweder keinerlei Realität gibt oder, in einer weniger radikalen Variante, die Welt des „Jenseits“ für uns unzugänglich ist, weshalb wir ihren Einfluss auf uns vernachlässigen können. Der menschliche Leib (im Sinn der Befriedigung seiner Bedürfnisse) und die Suche nach Genüssen werden die bestimmenden Motive der menschlichen Tätigkeit, und das wird als eine „echte“ praktische Einstellung wahrgenommen; somit wird die ökonomische Form zur Hauptform der Tätigkeit (und innerhalb des ökonomischen Bereichs wird die finanzielle Tätigkeit bestimmend). Die Wissenschaft und die Bildung werden dabei mehr und mehr dem praktische Nutzen untergeordnet, die Religion ist in eine Krise geraten und verwandelt sich allmählich in einen subjektiven Glauben, das Recht wird zu einer Fixierung des Kräfteverhältnisses der Klassen der Gesellschaft und des zum Gesetzt erhobenen Willens der herrschenden Klasse, der sich durch die Bezugnahme auf die universellen moralischen Prinzipien maskiert; die Kunst verwandelt sich mehr und mehr in ein Mittel der Zerstreuung in der Freizeit, und so entwickeln sich in ihr zwei Tendenzen: entweder zu einem auffallenden Gigantismus oder aber zur Kultivierung der Auswüchse oder pathologischen Zustände, die als von der Norm abweichend die Aufmerksamkeit des untätigen Publikums auf sich lenken1.

Die Evolution der soziokulturellen Systeme erinnert an das Prinzip des Pendels: Von Anfang an ist das soziokulturelle System in ein bestimmtes (in der Dogmatik ausgedrücktes) Verständnis von Gott integriert, in Verbindung mit der Verbreitung des Freidenkertums vollzieht sich der allmähliche Übergang zu einer idealistischen Form, die ursprüngliche geistliche Erfahrung geht immer mehr verloren, und es kommt zu einer zunehmenden Orientierung auf leibliche Genüsse (Sorokin, 1950, S. 13–16). Das wiederum führt zu einem ökonomischen Aufschwung, der als Kehrseite eine Einstellung zu allem

1

Der Inhalt dieses Absatzes ist eine kurze Darstellung der gesamten Konzeption

 

 

von Pitirim Sorokin. In dem Buch „Die Krise unserer Zeit“ sind Charakteristiken der

 

verschiedenen soziokulturellen Systeme in ihrer verschiedenen thematischen Bereichen in

 

den Kapiteln, die speziell diesen Bereichen gewidmet sind, zugeordnet: im zweiten

 

Kapitel – „Die Krise der schönen Künste“, im dritten – „Die Krise im Erkenntnissystem:

 

Wissenschaft, Philosophie, Religion“, im vierten – „Die Krise in Recht und Moral“ (drei

 

weitere Kapiteln, die andere Kulturbereiche beschreiben, wurden hier nicht einbezogen).

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Seienden als eine Gesamtsumme der Ressourcen für die Befriedigung der Bedürfnisse hat, die mehr und mehr pervers werden, oder zu raffinierten Vergnügungen, die immer widernatürlicher werden und so die Harmonie der anthropologischen Kräfte verstimmen (Sorokin, 1950, S. 252–261).

Wie kann die Menschheit den Sackgassen des sensoriellen soziokulturellen Systems entkommen? Als ein Ergebnis der Desintegration der herrschenden Ordnung, die sich um den menschlichen Leib zentriert, können die Elemente des idealistischen und ideationellen Systems, die bisher in der Peripherie dieser sinnlichen Ordnung geblieben sind, allmählich ins Zentrum verlagert werden. Sorokin sah in der Zukunft eine neue integrale Ordnung, die auf einer Synthese der fundamentalen Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Schönheit aufgrund des höchsten Wertes – der Liebe – basieren wird, und die Voraussetzungen dazu legt der Globalisierungsprozess, der den Menschen im Westen Möglichkeiten eröffnet, sich den geistlichen Erfahrungen anderer Kulturen zuzuwenden (Kulturen, die ihre Verbindung zum sakralen Bereich noch nicht verloren haben) und solche Erfahrungen in sich selbst zu revitalisieren. Die abendländische Kultur kann sich dadurch an die Erfahrung ihrer sakralen Tradition des Christentums als an etwas erinnern, was in der Zeit der Herrschaft des Positivismus und des Materialismus in Vergessenheit geraten war, wobei sie aber die Errungenschaften der Entwicklung der Vernunft seit der Epoche der Aufklärung nicht außer Acht lassen darf. Deshalb ist Pitirim Sorokin kein Konservativer, der zur Rückkehr in die Vergangenheit aufruft. Er strebt vielmehr danach, ein neues integrales soziokulturelles System vorwegzunehmen, das all das Beste aus den religiösen Erfahrungen der Vergangenheit mit den ästhetischen Errungenschaften der Epoche der Renaissance und der intellektuellen Ergebnisse der Entwicklung der Wissenschaft in der Epoche der Moderne synthesieren wird (Sorokin, 1970, P. 417, 676–678, 681–683, 690–691, 701–702). Die Liebe, der ein zentraler Wert einer solchen zukünftigen Ordnung zukommt, wird dabei nicht nur auf eine ihrer Formen reduziert, die in der Familie verkörpert ist, sondern es wird die freie Entwicklung aller ihrer Inhalten vorausgesetzt, darunter auch die Form der

Agape1.

Hier können wir einige Ideen der Philosophie der Liebe von Wladimir Solowjow (1853–1900) einbeziehen (Solowjöw, 1948). Laut diesem Philosophen kann die Liebe eine Verwandlung der menschlicher Gattung herbeiführen, bis zur Veränderung scheinbar anthropologischer Konstanten – die

1Sorokin, 1954; Sorokin, 1958; Sorokin, 1964, chapter 5. Auch: Sorokin, 1950, S. 267–272 (besonders klar auf S. 269: „Da so der Mensch und seine Werte geheiligt sind, sollten die Beziehungen von Mensch zu Mensch von dem kategorischen Imperativ der erhabenen Liebe geleitet werden“), S. 274–277 (auf S. 274 schreibt Sorokin über die Notwendigkeit des Katharsis und der Läuterung von der sensoriellen Sünden und Lastern durch die Überprüfung der Werte dieser Kultur).

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