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книги / Образ инженера XXI века социальная оценка техники и устойчивое развитие

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Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren sowie Kontrolloptimismus) bis heute fort. Neben der Umwelttechnik betrachtet Beck die wissenschaftliche Technikfolgenabschätzung (TA) als Beispiel dieser, seiner Ansicht nach unangemessen optimistischen Perspektive auf die Steuerbarkeit technischer Entwicklung.

Während die Kritik Becks aus einer systemischen Perspektive argumentiert, ist zudem auch moniert worden, dass im institutionellen Rahmen der Technikfolgenabschätzung keinesfalls rationale und demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse zur Befürwortung oder Ablehnung neuer Technologien herbeigeführt würden. Stattdessen gehe es vor allem um die Simulation solcher Prozesse und damit in letzter Konsequenz um bloße Akzeptanzsteigerung. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt liegt im verkürzten Verständnis von Technolo-

gie, dass diese auf bloße Artefakte reduziere und den Prozess der Technikgenese sowie Machtverhältnisse und Interessen ignoriere (vgl. dazu: 15, s. 24ff.]. Als Reaktion entstanden unterschiedliche Schulen der sozialkonstruktivistischen Technikforschung, die Petermann [ebd., s. 27] als TA der zweiten Generation charakterisiert: „Innovative Technikbewertung“ (Ropohl), „Constructive TA“ (Rip/van der Belt), „Leitbild Assessment“ (Dierkes), „Technikgenese“ (Dierkes, Rammert) und sozialverträgliche Technikgestaltung (Alemann/Schatz).

Eine zweite Arena der Auseinandersetzung lag in der Frage der Offenheit der TA: Sollte sie eher eine politikberatende ExpertenFunktion erfüllen, oder ist die partizipative und demokratische Technikgestaltung unter Einbeziehung der Bürger ihr Ziel? Zumindest die TA der 1. Generation wurde mit dem Vorwurf des Elitarismus und Scientismus konfrontiert [15, s. 34]. Trotz der Selbstreflexion der TA brach die Kritik an ihr nie ab. Vor diesem Hintergrund ist das Konzept der Responsible Research and Innovation (RRI) entstanden. Letzere sollte partizipativer, transparenter, ethischer und demokratischer sein [7; 21]. Für die Forschungspolitik der Europäischen Union kommt RRI eine wichtige Rolle zu [7]. Dadurch erreichte das Konzept ein beachtliches Momentum und hat im wissenschaftlichen System eine gewisse Verankerung erreicht. Unabhängig davon, in-

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wieweit die Kritik an der TA zutreffend ist und inwieweit die RRI die monierten Defizite überwinden kann: Auch die Diskurse um Partizipation und Transparenz sind wiederholt als Strategien genutzt worden, um Proteste zu befrieden und fundamentale Kritik zu isolieren. Letztlich macht es keinen Unterschied, unter welchem Label eine wissenschaftliche Technikbewertung vollzogen wird. Beide Konzepte verbindet, dass die jeweils zentralen Akteure zu-

mindest der Peripherie der etablierten Politikund Wissenschaftssysteme zuzurechnen sind. Diese Akteure sind es, die aufgrund ihrer überlegenen ökonomischen und organisatorischen Ressourcen maßgeblich Einfluss auf den Rahmen der Prozesse nehmen können, innerhalb dessen die Bewertungsprozesse verlaufen.

Die Auseinandersetzungen um wissenschaftliche Technikbewertung sollten nicht vergessen machen, dass Debatten zur RisikoEinschätzung neuer Technologien häufig außerhalb des skizzierten Spektrums geführt werden. Es sind organisierte zivilgesellschaftliche Akteure und soziale Bewegungen, die für ihre eigenen Perspektiven auf neue Technologien öffentlich eintreten und – wie bspw. im Fall der Atomund Gentechnik über Jahre hinweg Proteste mobilisieren [20]. Anhand von drei Beispielen aus den Energiesektoren Dänemarks und der Bundesrepublik Deutschland wird nachfolgend aufgezeigt, welche zentrale Rolle diese nicht im engeren Sinne wissenschaftlichen Technikbewertungen für Entscheidungen über Technikpfade einnehmen können.

Beispiel 1: Entwicklungen im dänischen Energiesektor (1970er/80er).

Zu Zeiten der Ölkrise von 1973 war die Energieversorgung Dänemarks stark von Importen aus den OPEC-Ländern abhängig und daher besonders von den Lieferbeschränkungen und erhöhten Preisen betroffen [8, s. 355]. Für die damalige Organisation der Energieversorger, Danske Elvarkers Forening (DEF), war klar, dass die Atomenergie zukünftig an die Stelle fossiler Ressourcen treten sollte.

Jedoch

war

diese

Frage

in

der

dänischen

Gesellsch

heftig umstritten. Als die DEF 1974 ankündigte, perspektivisch alle

 

102

zwei Jahre ein neues Atomkraftwerk bauen zu lassen, kam es sofort zu Protesten der neuen Umweltbewegung. Van Est zufolge [6, s. 70] bildete sich entlang dieser Frage ein neuer Fokus des ökologischen Widerstands heraus. Bei dem wichtigsten zivilgesellschaftlichen Akteur der Anti-Atom-Bewegung handelte es sich um die pragmatisch

ausgerichtete Organisation zur Information über die Atomkraft (OAA). Mehrfach kam es dazu, dass Beschlüsse zur Einführung verschoben wurden, bevor im Jahr 1985 die Entscheidung fiel, auf die Atom-Option zu verzichten [ebd., s. 70ff.]. Die Behauptung, dies sei allein auf zivilgesellschaftliche Proteste zurückzuführen, kann nicht aufrechterhalten werden. Vielmehr spielten den Atom-Gegnern unterschiedliche strukturelle Gegebenheiten und Ereignisse in die Hände [10, 2010, s. 20ff.]. Die Entscheidung zu Ungunsten der Atomenergienutzung war letztlich das Produkt der Machtverhältnisse in Politik und Gesellschaft sowie die mangelnde Fähigkeit der Befür- worter-Koalition zu einer konzertierten Vorgehensweise: „Just as the utilities, Risoe, and the politicians finally joined forces, the press and

the public managed to pesent their view of nuclear power as an unsafe and inresponsible technology in a way massive enough to win a majority of politicians over. Thus one could say that in Denmark nuclear technology was socially deconstructed” [14, s. 89].

Wichtig ist, dass der Beschluss zum Verzicht auf die Atomenergie dadurch erleichtert wurde, dass die Protestierenden Alternativen vorzuweisen hatten. Dabei handelte es sich erstens um eine teilweise schon bestehende dezentrale Infrastruktur aus lokalen Kraftwerken, Heizwerken und Wärmenetzen. Für die Phase 1950–1970 haben Raven/van der Vleuten [17, s. 3741] eine Zentralisierungstendenz diagnostiziert, die sich allerdings in den 1970er Jahren nicht ungebrochen fortsetzte, sondern vielmehr in ein hybrides System mündete, in welchem zentrale und dezentrale Elemente koexistieren. Die Forderung der Atomkraftgegner nach dezentraler Energienutzung wurde 1981 nicht zuletzt deshalb in den Energiplan 81 aufgenommen,

weil

an

einen

bestehenden

sozio-technischen

Entwicklungspfad

angeknüpft

werden

konnte. Die zweite Alternative, die

sich erst seit

103

den späten 1970er Jahren zu einer solchen entwickelte, waren kleine Windanlagen. Nicht zufällig betrachtete die dänische Anti-Atom- Bewegung Windturbinen als Symbol gegen die Atomenergienutzung.

Im Zeitraum 1975–1978 hatten Atomkraftgegner auf dem Gelände der alternativen Schule von Tvind im nördlichen Jütland weitgehend ohne staatliche Unterstützung eine fürdamalige Verhältnisse sehr große Windanlage errichtet. Erklärtes Ziel war, ein „Windkraftwerk“ zu schaffen, das als energiepolitische Alternative zu Kernkraftwerken anerkannt wurde [10, s. 63]. Während der Bauphase entwickelte sich die „TvindMühle“ zu einem wichtigen symbolischen Ort der Zusammenkunft von Anti-Atom-Aktivisten. Für die technisch-wirtschaftliche Entwicklung wichtiger waren die Aktivitä-ten imKleinwindsektor. Sowohl Anlagenbastler als auch (semi) professionelle Hersteller von Kleinwindanlagen erzielten mit Unterstützung atomkritischer Ingenieure der Organisation für Erneuerbare Energien (OVE) große Fortschritte. Bis zum Anfang 1980er Jahre wurden die erfolgreichen Windanlagen-Designs an kapitalstärkere Unternehmen verkauft und seitdem in Serienfertigung produziert [10].

Heute wird mehr als die Hälfte des dänischen Elektrizitätsbedarfs in Kraftwerken mit Wärmeauskopplung bereitgestellt. Die Windenergie trägt mit über 40 Prozent zur Stromversorgung Dänemarks bei.

Beispiel 2. Atomausstieg der Bundesrepublik Deutschland (1970–2022). Im Unterschied zu Dänemark kam es im südlichen Nachbarland zum Bau zahlreicher Atomkraftwerke. Wichtige Pfadentscheidungen trafen Akteure der Bundesregierung und die sich konstituierende Atomindustrie in den 1950er und 60er Jahren [20, s. 247 f.]. Zwar gab es auch in dieser Zeit Widersprüche aus der Gesellschaft. Doch zu ersten organisierten Protesten und Einsprü-chen

kam es erst 1970/71 gegen die geplanten AKW-Standorte Breisach, Esensham und Neckarwestheim. Seit Mitte der 1970er Jahre regte sich Widerstand gegen praktische jede geplante Atomanlage [ebd., s. 249 f.]. Verhindern konnten die Gegner die Durchsetzung der Atomstrategie zunächst nicht. Aber es gilt alsunbestritten, dass die Proteste an

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Orten wie Wyhl, Kalkar und Wackersdorf zur Stornierung der Pläne führten [ebd., s. 250 ff.]. Nachdem die Aktivität der Bewegung in der ersten Hälfte der 80er Jahre etwas nachgelassen hatte, kam es 1986 in Folge der Katastrophe von Tschernobyl zu einer Wiedererstarkung der Proteste. Im selben Jahr votierte ein Parteitag der sozialdemokratischen Partei (SPD) in Nürnberg für einen langfristigen Atomausstieg, und ein großer Teil der zuvor atomfreundlichen Gewerkschaften war umgeschwenkt [ebd., s. 254]Richtungsweisende. Förderprogramme zur Markteinführung der regenerativen Energien (vor allem der Windenergie) wurden während der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf Bundesund Länderebene gestartet [10, s. 175ff.]. Die Behauptung, die Förderprogramme seien komplett Reaktionen auf das Unglück von Tschernobyl wäre unzutreffend. Weitere Gründe waren die positiven Erfahrungen mit der Windenergie in Dänemark sowie

Industriepolitik zugunsten strukturschwacher Regionen in Norddeutschland [ebd.]. Nicht nur die Windturbinentechnologie wurden aus Dänemark importiert, sondern auch das Modell des gemeinschaftlichen Erwerbs und Betriebs von Windanlagen [10, s. 186ff.]. Denn ähnlich den dänischen Windenergiegenossenschaften, bildeten sich in der Bundesrepublik zahlreiche „Bürgerwindgesellschaften“

(3). Hauptmotivation zumindest der frühen Generation dieser Gruppen war es, mit dem Windanlagenbetrieb ein Symbol des konstruktiven Protests gegen den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken zu schaffen. Eine wichtige Rolle im Prozess des Atomausstiegs spielte auch die grüne Partei. Zumindest in den 1980er Jahren war sie integraler Bestandteil der Anti-Atom-Bewegung. Seit 1998 setzte sie sich als kleinere Koalitionspartnerin der SPD in der Bundesregierung

für einen Ausstiegsbeschluss ein. Tatsächlich wurde 2002 das Atomgesetz reformiert und für jedes AKW feste Reststrommengen de-

finiert. Letztere

sollten bis Anfang der 2020er Jahre verbraucht

worden sein, so dass bis dahin mit der Stilllegung des letzten Reak-

tors gerechnet

wurde. Jedoch war die Ausstiegsentscheidung in

Politik und Gesellschaft nie unumstritten. So kam es, dass eine kon-

servativliberale

Regierungskoalition den Beschluss im Jahr 2010

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revidierte. Dies führte zu einer erneuten Eskalation des Konflikts.

 

Nachdem sich jedoch 2011 eine weitere Großkatastrophe im ja-

 

panischen AKW nahe Fukushima ereignete, verschoben sich die

 

Kräfteverhältnisse erneut. Um ihre Position zu erhalten, setzte sich

 

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel nun für eine Rückkehr zum

 

Atomausstiegsplan ein. Nach einem dreimonatigen

Moratorium

 

wurde im Sommer 2011 die sofortige Außerbetriebnahme von acht

 

 

Reaktoren beschlossen. Die übrigen neun AKW sollen schrittweise

 

 

bis 2022 abgeschaltet werden.

 

 

 

 

 

 

 

Beispiel 3. Stromnetzausbau in der Bundesrepublik Deutsch-

 

 

land (seit 2005). Seit

2005

ist der

Ausbau

des

deutschen

Höchstspannungsnetzes

ein

Thema.

Damals veröffentlichte

die

 

deutsche Energieagentur ihre Netzstudie. Der Energieagentur zufolge

 

 

sollten aufgrund des Ausbaus regenerativer Energien großumfänglich

 

 

neue Höchstspannungsleitungen gebaut werden. In manchen Re-

 

gionen wird bereits seit mehr als zehn Jahren gegen die Trassen-

 

Projekte

Widerstand geleistet

[11]. Die Konfliktgründe sind unter-

 

 

schiedlich und überlagern sich teilweise: Dem Großteil der Pro-

 

testierenden geht es primär darum, die negativen Effekte der Freilei-

 

 

tungen (Gesundheitsrisiken durch elektromagnetische Wellen; Natur-

 

 

und Landschaftsschutz sowie wirtschaftliche Gründe). Ein etwas

 

kleinerer Teil der Proteste übt grundsätzliche Kritik an der vorherr-

 

 

schenden Sichtweise, dass die Stromleitungen zur Umsetzung der

 

Energiewende (Atomausstieg, Ausbau regenerativer Energieträger)

 

 

erforderlich seien [11; 12; 13]. Dieser konzeptkritische Standpunkt

 

 

moniert, dass der Netzausbau weniger zugunsten der Energiewende

 

 

erfolge.

Vielmehr

gehe

es

primär

um

die

Erhaltung

d

Wirtschaftlichkeit fossiler Kraftwerke und den europäischen Strom-

 

 

handel sowie die Sicherung des zentralistischen Energiepfades. Als

 

 

Beleg der ZentralismusThese werden nicht nur die Trassenpläne

 

angeführt, sondern auch die Verschiebung der Förderpolitik regen-

 

 

erativer

Energien:

Während zunehmend

eine

Marginalisierung

 

kleinteiliger Photovoltaik-, Biogasund Windanlagen stattfinde, konzentriere man sich auf große – vorwiegend von Energiekonzernen ge-

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plante - Offshore-Windparks. Zum Teil eignen sich die Protestierenden den jeweils anderen Argumentationsstrang an, um die Legitimität der eigenen Position zu stärken [11; 13].

Ohne auf weitere Details einzugehen: Mit Bezug auf das Thema des Artikels lassen sich die Proteste insgesamt als Ausdruck einer ablehnenden Technikbewertung interpretieren, zu welcher die Netzausbau-Gegner gelangt sind. Im Unterschied zur dänischen und deutschen Anti-Atom-Bewegung (Beispiele 1 und 2) nehmen die Netzausbaugegner hinsichtlich der Verfügbarmachung alternativer Technologien zumindest keine vergleichbar aktive Rolle ein. Dies hat vor allem strukturelle Gründe und hängt weniger mit bestimmten individuellen Handlungsorientierungen zusammen. Ein Teil der Protestierenden fordert das Erdkabel als technische Alternative. Andere bezweifeln die Erforderlichkeit der Trassen und sehen sich folglich nicht in der Pflicht, Alternativen bereitzustellen. Schließlich gibt es diejenigen, die auf dezentrale regenerative Energien und dezentrale Speichertechnologien verweisen. Die praktische Dimension liegt in der Forderung (nicht zuletzt an den Gesetzgeber), Investitionen in dezentrale Energiekomponenten (wieder) zu ermöglichen. Mittlerweile haben sich einige Trassen-Projekte vor allem aufgrund der Pro-

teste um circa zehn Jahre verzögert. Doch auch dabei wird es nicht bleiben. Denn im Unterschied zur Netzstudie aus dem Jahr 2005 propagiert die Bundesregierung offiziell einen Netzausbau von mehr

als 7.000 km [13]. Davon befindet sich allerdings erst der kleinere Teil in konkreten Planungsphasen, so dass künftig mit einer Zunahme der Proteste gerechnet werden kann .

Es kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, wie sehr den etablierten Befürwortern des Netzausbaus in Politik und Wirtschaft an der Erhaltung der zentralistischen Architektur des Energiesystems gelegen ist. Werden sie an den Ausbauplänen auch unter der Bedingung festhalten, dass technische Alternativen (vor allem Speicher und dezentrale Erzeugungstechnologien sowie Lastmanagement) günstiger werden? Oder die Proteste weiter an Stärke gewinnen, so

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dass weitere Verzögerungen zu immer höheren Kosten aufgrund mangelhafter Integration des Energiesystems zu rechnen ist?

Fazit

Die Beispiele zeigen inwiefern eine mehr oder weniger organisierte zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit Einfluss auf die offizielle Energiepolitik nehmen kann. Faktisch werden Technologiebewertungen mit abschlägigen Ergebnissen vollzogen.

Nicht alle Protestierenden verfügen über das nötige Wissen und die Möglichkeit, sich so intensiv mit dem Gegenstand zu befassen, dass sie die aus den eigenen Reihen und letztlich in ihrem Namen ge-äußerte Kritik komplett nachvollziehen würden. Seitens der Befürworter, in der Regel der etablierten Akteure, werden gern Vor-

würfe der Irrationalität

und fehlender Sachlichkeit erhoben. Sie

selbst hingegen möchten überparteilich erscheinen. In demonstrativer

Unaufgeregtheit scheinen

sie den Protestierenden zuzurufen: „Wer

schreit, der lügt! Das seid ihr, vergesst es nicht!“ Technik-Bewertungen sind relativ. Je nach Priorisierung und

Gestaltung der Kriterien können sie unterschiedlich ausfallen (bspw. Wirtschaftlichkeit, Umweltund Naturschutz, Nachhaltigkeit). Der Einsatz wissenschaftlicher Expertise hat sich in vielen Konflikten als Strategie erwiesen, die eigenen Standpunkte auf eine legitimere Basis zu stellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn von der Umsetzung der Projekte ökonomische Interessen einzelner Akteure, in der Regel gewinnorientiert tätiger Unternehmen, betroffen sind.

Natürlich kann es nicht darum gehen, die Frage von „richtig“ und „falsch“ komplett auszublenden. Ob konstruktive Alternativen

vorgeschlagen werden oder nicht: Protestierende haben nicht pauschal recht. Allerdings werden sich in der Geschichte nur wenige Beispiele finden lassen, in denen die Allgemeinbevölkerung eines Landes größere Nachteile dadurch erlitten hat, dass eine Technologie aufgrund von Protesten nicht eingeführt, bzw. Großprojekte gestoppt

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wurden. Nach gegenteiligen Fällen jedoch, braucht wohl niemand lange zu suchen.

Bereits heute muss konstatiert werden, dass es sich bei der Atomenergienutzung insgesamt umeinen riskanten Irrweg handelt, der allerdings eine beachtliche Immunität gegen die (Ohn) macht der besseren Argumente erlangt hat. Denn selbst in Westeuropa, wo der Aufbau einer nachhaltigen Energieversorgung binnen weniger Jahre möglich wäre, kommt es noch immer zu Investitionsentscheidungen

für Reaktoren

(wie zuletzt

Hinkley Point C in Großbritannien).

Weniger trivial

hingegen ist

der Fall des Netzausbaus. Wie viele

neue Trassen zur nachhaltigen

Energieversorgung Deutschlands ge-

braucht werden, hängt u.a. von Rahmenbedingungen ab, die sich zukünftig ändern können. Ähnliche Fälle kontroverser Infrastrukturprojekte von hoher Komplexität, die potenziell sehr wichtige Beiträge

zum Klimaschutz leisten, könnte es in

Zukunft

vermehrt

geben.

Damit gesellschaftliche Debatten und vernünftige Entscheidungen

über frühzeitige Hochwasserschutzmaßnahmen,

Geo-Engineering

sowie Trassen für Strom, Erdgas und Magnetschwebebahnen her-

beigeführt werden, bedarf es einer

„unverbrauchten“

wissen-

schaftlichen Technikbewertung.

 

 

 

Eine objektive und als vollständig

neutral

wahrgenommene

Technikbewertung wird es ohnehin nicht geben. Damit sich wissenschaftliche TA und RRI dennoch eine maximale Neutralität erhalten, ist es wichtig, dass sie sich gerade in der Bewertung kontroverser und ambivalenter Technologien zurücknehmen. Keinesfalls dürfen sie zu einem Vorposten staatlicher Macht werden: sei es als graue

Eminenz oder in der Variante gesprächiger Dialog-Foren, die so lange offen sind, so lange sich die Gegner bereit erklären, fundamentaloppositionelle Standpunkte aufzugeben. Eine progressive Rolle können die Akteure offizieller Technikbewertungen letztlich nur einnehmen, wenn sie sich gemeinsam mit der Zivilgesellschaft für eine humane Technikgestaltung einsetzen.

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Literatur

1.Alemann, Ulrich von/Schatz, H. Mensch und Technik. Grundlagen und Perspektiven einer sozialverträglichen Technikgestaltung. – Opladen, 1986.

2.Beck, Ulrich. Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne. – Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986.

3.Byzio, Andreas/Heine, Hartwig/Mautz, Rüdiger / Rosenbaum, Wolf Zwischen Solidarhandeln und Marktorientierung. Ökologische Innovationen in selbstorganisierte Projekten – autofreies Wohnen, Car-Sharing und Windenergienutzung. – Göttingen: Soziologisches Forschungsinstitut, 2002.

4.Dierkes, Meinolf. Technikgenese als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung – erste Überlegungen. In: Verbund sozialwissenschaftliche Technikforschung, Mitteilungen, Heft 1. – Frankfurt/M., 1987. – S. 166–183.

5.Dierkes, Meinolf. Organisationskultur und Leitbilder als Einflussfaktoren der Technikgenese. Thesen zur Strukturierung eines Forschungsfeldes. In: Verbund sozialwissenschaftliche Technikforschung, Mitteilungen, Heft 3. – München, 1988. – S. 49–62.

6.Est, Rinie van. Winds of Change. A comparative Study of

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8.Heymann Matthias. Die Geschichte der Windenergienutzung 1890–1990. – Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, 1995.

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10.Neukirch Mario. Die internationale Pionierphase der Windenergienutzung, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. – Göttingen, 2010.

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